Verliebt in Paris: Roman (Piper Taschenbuch) (German Edition)
überhaupt, war ich geschickt darin zu erkennen, wo eine Sache hingehörte.
Es war wohl eine besondere Begabung, intuitiv zu wissen, wo etwas seinen Platz hatte, wie es sich ins Ganze einfügte, warum es an die eine Stelle und an keine andere gehörte. Vermutlich hatte ich deswegen diesen Zwang verspürt, Ms 6B den Zettel in die Handtasche zu stecken. Da gehörte er hin. Ich gehörte zu ihr.
Na ja, vielleicht stimmte das nicht ganz. Vermutlich hatte sie deshalb nicht auf meine Einladung geantwortet, eine E -Bekanntschaft anzuknüpfen. Ich versuchte noch immer, die gefühlte Zurückweisung abzuschütteln, während ich den Retiro-Park durchquerte.
Als ich schließlich am Kristallpalast eintraf, sah ich ein Dutzend mürrisch dreinschauender Männer in Latzhosen, die mit Kabeln und Elektrowerkzeugen beladen im Gebäude ein und aus gingen. Solange stand genau in der Mitte des altmodischen Gewächshauses.
Sie ist eine kleine Frau – ich wette, sie wiegt keine fünfundvierzig Kilo –, aber mächtig umtriebig. Mit ihren bald sechzig Jahren ist sie noch immer die begehrteste freischaffende Kuratorin Europas. Museumsdirektionen zahlen ihr stolze Beträge, damit sie befristete Ausstellungen entwirft, die hohe Erlöse und gute Presse garantieren. Wir hatten schon gemeinsam an mehreren Vorhaben gearbeitet. Ich habe die allergrößte Achtung vor ihr – und mag sie auch, solange sie nicht aus der Haut fährt, was sie bei meiner Ankunft offensichtlich tat.
Statt mit den üblichen Wangenküssen links und rechts begrüßte mich Solange mit einem Hagel von Beschwerden.
»Die elektronischen Jalousien klemmen«, begann sie und drückte wiederholt auf eine Fernsteuerung, wie um deren Nutzlosigkeit vorzuführen. »Du hast gesagt, sie würden rauf und runter fahren. Nachts rauf, wenn es draußen dunkel ist. Tagsüber runter, damit die Leute die Exponate sehen können. Sie funktionieren aber nicht.«
»Das können wir beheben«, beschwichtigte ich sie und rieb mir den Nacken. Er schmerzte, nachdem ich mir im Flugzeug stundenlang den Hals verrenkt hatte, um Ms 6B zu beobachten.
»Und die Schaltkreise! Ständig Kurzschlüsse«, setzte Solange ihren charakteristischen Schnellfeuervortrag fort.
»Ich werde einen Blick drauf …«, meinte ich.
»Und der Caterer hat angerufen«, unterbrach sie mich. »Sein Vater ist gestorben.«
»Wie schrecklich.«
»Er kann kein Essen für die Vernissage zubereiten. Oh, und in den Toiletten stinkt es. Und …«
Es war zwecklos. Solange wollte die Lage nicht etwa erörtern, sondern sich abreagieren. An mir. Also ließ ich sie gewähren und achtete darauf, gelegentlich zu nicken. In meinem Kopf stimmte der »Wichita Lineman« sein Lied von der Einsamkeit eines Mannes an, der Telegrafenleitungen flickt.
Ich schwärme seit jeher für diesen Song von Jimmy Webb. Das Bild von einem Burschen, der eine Landstraße entlangfährt und sich nach jemandem sehnt, hat schon immer etwas in mir zum Schwingen gebracht. Und dann diese Zeile, die davon handelt, jemanden mehr zu brauchen als zu wollen. Sie geht mir immer wieder zu Herzen, obwohl ich mir nicht sicher bin, was sie genau bedeutet.
In Wahrheit habe ich das ganze Lied nie so richtig verstanden. Es heißt darin, dass der Wichita Lineman jemandem zuhört, aber wem eigentlich? Steht er wirklich oben auf einer Telegrafenleitung, oder ist das Ganze nur ein Sinnbild für seine prekäre Gefühlslage? Für mich repräsentiert dieses Lied die Kunst. Es gibt Fragen auf. Es schlägt einem ziemlich aufs Gemüt. Und es gibt eine Spannung zwischen den Teilen des Songs, die ich verstehe, und denen, die ich nicht verstehe. Dazu kommt ein Hauch von Traurigkeit, den alle wahre Kunst erfordert. Den Schmerz des Lebens und den Trost der Liebe – beides höre ich aus dem »Wichita Lineman« heraus.
Während Solange redete, sah ich mich nach dem ganzen postdigitalen Unsinn um, der sich darum bemühte, Kunst zu sein. Die auffälligste Installation hieß Spin the Cell Phone , Flaschendrehen mit Handy. Der Künstler hatte einen interaktiven Hindernisparcours geschaffen, der die Kunst, die Liebe per SMS zu finden, nachbilden sollte.
Wer waren diese Künstler? Hatten sie jemals geliebt?, fragte ich mich. Das waren doch Leute, die lieber allein vor einem Rechner saßen als zu zweit unter einem Baum. Leute, die keine Ahnung hatten, was es bedeutete, eine Landstraße entlangzufahren und sich nach jemandem zu sehnen. Leute, die meinem Sohn sehr ähnlich waren, was ich äußerst
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