Verliere nicht dein Gesicht
vor Kälte. Es fiel ihr schwer, sich die Rusties als echte Menschen vorzustellen und nicht als eine idiotische, gefährliche und manchmal komische Macht der Geschichte. Aber da unten waren menschliche Wesen, oder was nach einigen hundert Jahren von ihnen übrig sein mochte, und sie saßen noch immer in ihren verrußten Autos, als ob sie noch immer versuchten ihrem Schicksal zu entgehen.
"Ich wüsste gern, warum wir das im Geschichtsunterricht nicht erfahren. Sie lieben doch sonst alles, was die Rusties wie ein jämmerlicher Haufen wirken lässt."
David senkte seine Stimme. "Vielleicht sollt ihr nicht begreifen, dass jede Zivilisation ihre Schwächen hat. Es gibt immer etwas, wovon wir abhängig sind. Und wenn irgendwer das wegnimmt, bleibt nichts übrig als eine Lektion für den Geschichtsunterricht."
"Nicht bei uns", widersprach sie. "Erneuerbare Energie, unerschöpfliche Rohstoffe, eine festgesetzte Bevölkerungsmenge."
Die beiden Reiniger piepten und David ging sie holen. "Es muss nicht mit dem Wirtschaftssystem zu tun haben" , sagte er, als er mit dem Essen
zurückkam. "Auch eine Idee konnte diese Schwäche sein."
Sie drehte sich zu ihm um und nahm ihre Portion, und dabei sah sie sein ernstes Gesicht. "Also, David, gehört das zu den Dingen, über die du in all den Jahren nachgedacht hast, wenn du dir eine Invasion von Smoke vorgestellt hast? Hast du dich je gefragt, was die Städte zur Geschichte machen würde?"
Er lächelte und biss in sein Ei. "Das wird mir jeden Tag klarer."
Vertrauter Anblick
In der nächsten Nacht erreichten sie wie geplant den Rand der Wüste, dann folgten sie drei Tage lang einem Fluss bis ans Meer. Auf diese Weise kamen sie immer weiter nach Norden und die Oktoberkälte war so schlimm wie jeder Winter, den Tally je erlebt hatte. David holte Polar-Kleidung aus der Stadt hervor, hergestellt aus glänzend silbernem Material, und Tally zog sie über ihren handgestrickten Pullover, ihr einziger Besitz aus Smoke. Sie war froh, dass sie in der Nacht vor dem Überfall darin eingeschlafen war, denn auf diese Weise hatte sie ihn nicht verloren, so wie alles andere.
Die Nächte auf den Brettern schienen schnell zu vergehen. Auf dieser Reise musste keine von Shays rätselhaften Anweisungen durchschaut werden, sie mussten keinem Lauffeuer ausweichen und keine antike Rusty-Maschine tauchte auf, um Tally Angst einzujagen. Die Welt schien leer zu sein, abgesehen von Ruinen hier und da, als wären Tally und David die letzten lebenden Menschen.
Sie reicherten ihre Kost mit Fischen aus dem Fluss an, und Tally briet auf einem Feuer, das sie selbst entfacht hatte, ein Kaninchen. Sie sah zu, wie David seine lederne Kleidung flickte, und kam zu dem Schluss, dass sie niemals in der Lage sein würde, so geschickt mit Nadel und Faden umzugehen. David brachte ihr bei, an den Sternen Uhrzeit und Richtung abzulesen, und sie zeigte ihm, wie die besondere Software aktiviert werden konnte, die die nächtliche Leistungsfähigkeit der Bretter stei-gerte.
An der Küste bogen sie nach Süden ab und folgten dem nördlichen Schienenstrang der Bahnlinie, die Tally auf ihrem Weg nach Smoke benutzt hatte. David erklärte, diese Linie sei einst ununterbrochen bis zu Tallys Heimatstadt und noch weiter gegangen. Aber jetzt klafften große Lücken in den Schienen und an der Küste waren neue Städte errichtet worden, und so mussten sie mehr als einmal das Binnenland aufsuchen. Aber David kannte die Flüsse, die Überreste der Eisenbahnen und der anderen Metallwege, die die Rusties hinterlassen hatten, deshalb konnten sie immer wieder Zeit aufholen.
Nur das Wetter konnte sie aufhalten. Nach einigen Tagen an der Küste schoben sich über dem Meer düstere, bedrohliche Wolkenbänke zusammen. Zuerst schien der Sturm nicht ans Ufer kommen zu wollen, er baute sich langsam über vierundzwanzig Stunden hinweg auf und die Veränderungen im Luftdruck ließen die Bretter beben und erschwerten den Flug. Der Sturm lieferte allerlei Warnungen, aber als er dann endlich losbrach, wurde er viel schlimmer, als Tally das jemals erwartet hätte.
Sie hatte die volle Wucht eines Hurrikans bisher nur in den festen Gebäuden ihrer Heimatstadt erlebt. Das hier aber war eine weitere Demonstration der wütenden Macht der Natur.
Drei Tage lang bibberten Tally und David in einem Plastikzelt im Schutz eines Felsvorsprungs. Sie verbrannten chemische Glühstäbe, um Licht und Wärme zu
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