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Verliere nicht dein Gesicht

Verliere nicht dein Gesicht

Titel: Verliere nicht dein Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Westerfeld
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die flache Achterbahn benutzt, um die Waren von einer Stadt zur anderen zu bringen.
      Als der Himmel hell wurde, hörte Tally in der Ferne das Meer, ein vages Rauschen jenseits des Horizonts. Sie konnte Salz in der Luft riechen, und das brachte Erinnerungen von früher, als sie als Winzling mit Ellie und Sol am Ozean gewesen war.
      "Kalt ist das Meer, achte auf Brecher", stand auf Shays Zettel. Bald würde Tally sehen können, wie die Wellen sich am Strand brachen. Vielleicht näherte sie sich dem nächsten Stichwort.
      Tally fragte sich, wie viel Zeit sie mit dem neuen Hubbrett wohl aufgeholt hatte. Sie steigerte das Tempo und zog ihre Schuljacke enger um sich gegen die Kälte, die dem Sonnenaufgang vorausging. Die Schienen kletterten jetzt langsam aufwärts und schnitten sich einen Weg durch die Kalkfelsen. Tally erinnerten sich an weiße Felsen, die über dem Ozean aufragten und auf denen es von nistenden Seevögeln nur so wimmelte.
      Diese Campingferien mit Sol und Ellie schienen hundert Jahre zurückzuliegen. Sie fragte sich, ob es wohl eine Operation gab, die sie für immer in einen Winzling würde zurückverwandeln können.
      Plötzlich öffnete sich vor Tally eine Schlucht, die von einer baufälligen Brücke überspannt wurde. Gleich darauf sah sie, dass die Brücke nicht ganz bis zur anderen Seite reichte und dass unten kein Fluss voller Metallablagerungen verlief, um sie aufzufangen. Es ging einfach nur steil hinab ins Meer.
      Tally riss ihr Brett seitwärts herum. Ihre Knie bogen sich durch die Wucht des Bremsmanövers, ihre Griffschuhe quietschten, als sie über die Oberfläche schrammten, ihr Körper lag fast parallel zum Boden.
      Aber der Boden war nicht mehr da.
      Ein tiefer Abgrund klaffte unter ihr, eine Spalte, die das Meer in die Klippen geschnitten hatte. Kochende Wellen brachen sich in dem engen Kanal. Ihre weißen Mähnen glühten in der Dunkelheit, ihr hungriges Gebrüll füllte Tallys Ohren. Die Lampen des Metalldetektors erloschen eine nach der anderen, als das abgebrochene Ende der Eisenbrücke hinter Tally zurückblieb.
      Sie spürte, wie das Brett seine Kraft verlor und absackte.
      Ein Gedanke jagte ihr durch den Kopf: Wenn sie jetzt sprang, könnte sie das Ende der zerbrochenen Brücke erreichen. Aber dann würde das Hubbrett in den Abgrund stürzen und sie käme nicht mehr weiter.
      Irgendwo auf halber Strecke verlangsamte das Brett endlich seinen Sturz, aber Tally bewegte sich weiterhin nach unten. Die letzten Finger der zerfallenen Brücke waren jetzt über ihr, außerhalb ihrer Reichweite. Das Brett senkte sich Zoll für Zoll, die Lampen des Metalldetektors erloschen eine nach der anderen, als die Magneten nichts mehr spürten. Tally war zu schwer. Sie streifte den Rucksack ab, bereit, ihn fallen zu lassen. Aber wie sollte sie ohne ihn überleben? Ihre einzige Rettung wäre dann, zur Stadt zurückzukehren und sich eine neue Ausrüstung zu besorgen, und dabei würde sie zwei weitere Tage verlieren. Ein kalter Seewind fegte durch die Kluft und ließ Tally erschauern wie von einem Todeshauch.
      Aber der Wind hielt das Brett fest und für einen Moment hing Tally bewegungslos in der Luft. Dann aber senkte das Brett sich wieder nach unten ...
      Tally bohrte die Hände in die Jackentaschen und breitete die Arme aus, um den Wind wie ein Segel einzufangen. Eine stärkere Brise kam auf, hob sie leicht an und nahm so ein wenig Gewicht vom Brett. Eine Detektorlampe flackerte.
      Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln begann Tally aufzusteigen.
      Die Hubvorrichtungen bekamen wieder Kontakt zu den Schienen und etwas später hatte das Brett Tally auf die Höhe des zerbrochenen Brückenendes gebracht. Sie dirigierte es vorsichtig zurück über den Klippenrand und ein Zittern durchlief sie, als das Brett über festen Boden schwebte. Mit weichen Knien stieg Tally herunter.
      "Kalt ist das Meer, achte auf Brecher", sagte sie heiser. Wie hatte sie so dumm sein können und ihr Tempo steigern, wo Shay sie doch zur Vorsicht ermahnt hatte?
      Tally ließ sich auf den Boden fallen, plötzlich war ihr schwindlig und sie war müde. In Gedanken sah sie immer wieder, wie die Kluft sich auftat, wie die Wellen unter ihr gleichgültig gegen die scharfen Felsen schlugen. Sie könnte jetzt dort unten liegen und immer wieder gegen die Felsen geworfen werden, bis nichts mehr von ihr übrig wäre.
      Das hier war die Wildnis, schärfte sie sich ein. Hier hatten Fehler schwerwiegende

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