Verliere nicht dein Gesicht
Sie ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken. Vor ihren Augen verschwamm alles und ihr Magen krampfte sich zusammen, wenn sie an Peris dachte, an ihre Eltern, an alle anderen Pretties, die ihr je begegnet waren. Auf welche Weise waren die anders?, überlegte sie. Was mochte es für ein Gefühl sein, hübsch zu sein? Was ging wirklich hinter diesen großen Augen und den wunderschönen Zügen vor sich?
"Du siehst müde aus", sagte David.
Sie lachte leise. Es schien schon Wochen her zu sein, dass David und sie dieses Haus betreten hatten. Einige wenige Stunden und ein Gespräch hatten ihre Welt verändert. "Ein bisschen vielleicht."
"Wir sollten aufbrechen, Mom."
"Natürlich, David. Es ist spät und Tally hat sehr viel zu verdauen."
Maddy und Az erhoben sich und David half Tally auf. Wie betäubt verabschiedete sie sich von den beiden und sie zuckte innerlich zusammen, als sie den Ausdruck in ihren alten, hässlichen Gesichtern sah: Sie tat ihnen leid. Leid, weil sie die Wahrheit hatte erfahren müssen, leid, weil sie, Az und Maddy, es gewesen waren, die ihr davon erzählt hatten. Nach zwanzig Jahren hatten sie sich an diese Vorstellung vielleicht gewöhnt, aber sie begriffen noch immer, wie entsetzlich es war, diese Dinge zum ersten Mal zu hören.
Neunundneunzig Prozent der Menschheit war das Gehirn verändert worden und nur ganz wenige Menschen auf der ganzen Welt wussten, was da genau passierte.
***
"Verstehst du, warum ich dir meine Eltern vorstellen wollte?"
"Ja, ich glaube schon."
Tally und David waren wieder in der Dunkelheit unterwegs, sie kletterten auf den Felsrücken, der zurück nach Smoke führte, und am Himmel funkelten die Sterne, jetzt, wo der Mond nicht mehr zu sehen war.
"Du wärst sonst vielleicht in die Stadt zurückgekehrt, ohne es zu wissen."
Tally zitterte und ihr ging auf, wie viele Male sie schon kurz davor gestanden hatte. In der Bücherei hatte sie den Anhänger ja sogar geöffnet und fast an ihr Auge gehoben. Und dann wären nach wenigen Stunden die Sondertruppen eingetroffen. "Das könnte ich nicht ertragen", sagte David.
"Aber es muss doch Uglies geben, die zurückgehen, oder?"
"Sicher. Auf Dauer finden sie das Lagerleben langweilig und wir können sie ja nicht zum Bleiben zwingen."
"Ihr lasst sie gehen? Ohne dass sie wissen, was die Operation wirklich bedeutet?"
David blieb stehen und legte die Hand auf Tallys Schulter, sein Blick war gequält. "Wir wissen das doch auch nicht. Und was würde passieren, wenn wir allen von unserem Verdacht erzählten? Die meisten würden uns nicht glauben, andere würden sofort in die Städte zurückstürzen, um ihre Freunde zu retten. Und dann würden die Städte irgendwann erfahren, was wir
wissen, und sie würden alles unternehmen, was in ihrer Macht steht, um
uns fertigzumachen."
Das tun sie ja schon , sagte Tally zu sich. Sie hätte gern gewusst, wie viele Spione die Specials schon dazu gezwungen hatten, sich auf die Suche nach Smoke zu machen, und wie oft Smoke fast entdeckt worden wäre. Sie hätte David gern erzählt, was sich da zusammenbraute, aber wie? Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass sie als Spionin hergekommen war, denn dann würde David ihr nie mehr wieder vertrauen.
Sie seufzte. Das wäre doch eine perfekte Möglichkeit für sie, nicht mehr zwischen ihm und Shay zu stehen.
"Du siehst nicht gerade glücklich aus."
Tally versuchte zu lächeln. David hatte sein größtes Geheimnis mit ihr geteilt, sie müsste ihm also ihres anvertrauen. Aber sie war nicht tapfer genug, um es auszusprechen. "Das war ein langer Abend. Das ist alles."
Er erwiderte ihr Lächeln. "Mach dir keine Sorgen, auch der geht vorbei."
Tally fragte sich, wie lange es noch bis zur Morgendämmerung dauerte. In wenigen Stunden würde sie neben Shay und Croy beim Frühstück sitzen, zusammen mit allen anderen, die sie fast verraten hätte, fast zur Operation verdammt. Sie zuckte zusammen, als sie daran dachte.
"He", sagte David und hob ihr Kinn mit seiner Hand. "Du warst großartig
heute Abend. Ich glaube, meine Eltern waren beeindruckt von dir."
"Hä? Von mir?"
"Natürlich, Tally. Du hast sofort begriffen, was das alles bedeutet. Die meisten anderen wollen es zuerst nicht glauben. Sie behaupten, die Behörden könnten doch niemals so grausam sein."
Sie lächelte grimmig. "Keine Sorge, das glaube ich."
"Genau. Wir haben hier schon viele junge Leute
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