Verliere nicht dein Gesicht
der Stadt zerkratzt, als ich zwischen den Bäumen herumgekurvt bin. In hohem Tempo. Tolles Abenteuer, was?"
"Aber auch das erzählt eine Geschichte. Wie ich schon bei unserer ersten Begegnung gedacht habe - du hast keine Angst vor dem Risiko." Seine Finger spielten mit einer Strähne ihrer versengten Haare. "Das hast du noch immer nicht."
"Kann schon sein." Hier mit David in der Dunkelheit zu stehen kam ihr vor wie ein Risiko, als werde sich jetzt abermals alles ändern. Er hatte noch immer diesen besonderen Blick, diesen Pretty-Blick.
Vielleicht konnte er wirklich an ihrem hässlichen Gesicht vorbeisehen. Vielleicht spielte das, was es in ihr gab, für ihn eine größere Rolle als alles andere.
Tally stieg auf einen faustgroßen Stein und kam mühsam ins Gleichgewicht. Sie waren jetzt auf gleicher Augenhöhe. Sie schluckte. "Du findest mich wirklich schön."
"Ja. Was du tust, wie du denkst, das alles macht dich schön."
Ein seltsamer Gedanke durchfuhr sie und Tally sagte: "Ich finde es schrecklich, wenn du operiert würdest." Sie konnte nicht fassen, dass sie das sagte. "Selbst, wenn sie dein Gehirn in Ruhe ließen, meine ich."
"Himmel, danke." Sein Lächeln leuchtete in der Dunkelheit.
"Ich will nicht, dass du aussiehst wie alle anderen."
"Ich dachte, darum geht es beim Hübschwerden."
"Ich auch." Sie berührte seine Augenbraue an der Steile, wo die weiße Narbe sie durchschnitt. "Woher hast du diese Narbe?"
"Das war ein Abenteuer. Eine gute Geschichte. Irgendwann erzähl ich dir davon."
"Versprochen?"
"Versprochen."
"Gut." Sie beugte sich vor, ihr Gewicht drückte sich gegen ihn und als ihre Füße langsam von dem Stein rutschten, begegneten sich ihre Lippen. Seine Arme umschlangen sie und zogen sie an sich. Sein Körper war warm in der Kälte vor der Dämmerung und stellte in Tallys erschütterter Wirklichkeit etwas Solides und Gewisses dar. Sie klammerte sich an ihn und staunte darüber, wie intensiv ihr Kuss wurde.
Gleich darauf wich sie zurück, um Atem zu holen, und sie dachte für eine Sekunde, wie seltsam das doch alles war. Uglies küssten sich zwar untereinander, und das sogar ziemlich heftig, aber dabei hatten sie immer das Gefühl, dass nichts zählte, solange sie noch keine Pretties waren.
Aber das hier zählte.
Sie zog David wieder an sich, ihre Finger bohrten sich in das Leder seiner Jacke. Die Kälte, ihre schmerzenden Muskeln, die entsetzlichen Dinge, die sie vorhin erfahren hatte, das alles ließ das Gefühl nur stärker werden.
Dann berührte eine seiner Hände ihren Nacken, fuhr an der dünnen Kette entlang bis zum kalten, harten Metall des Anhängers.
Sie erstarrte und ihre Lippen lösten sich von seinen.
"Was ist damit?", fragte er.
Sie ballte die Faust um das Metallherz, während ihr anderer Arm ihn noch immer umfing. Um nichts in der Welt würde sie David von Dr. Cable erzählen können. Er würde sich von ihr zurückziehen, vielleicht für
immer. Noch immer stand der Anhänger zwischen ihnen.
Plötzlich wusste Tally, was sie zu tun hatte. Die Lösung war perfekt. "Komm mit mir."
"Wohin?"
"Nach Smoke. Ich muss dir etwas zeigen."
Sie zog ihn den Hang hoch und stolperte weiter, bis sie oben auf dem Felsrücken angekommen waren.
"Alles in Ordnung mit dir?", keuchte er. "Ich wollte nicht..."
"Alles bestens." Sie strahlte ihn an, dann schaute sie hinab auf Smoke. Ein einsames Lagerfeuer brannte nahe der Ortsmitte, dort versammelten sich die Nachtwächter jede Stunde zum Aufwärmen. "Komm schon."
Plötzlich war es wichtig, bald dort zu sein, ehe ihre Gewissheit verflog, ehe ihr warmes Gefühl von Zweifeln vertrieben wurde. Sie kletterte zwischen den bemalten Steinen des Hubbrettweges hinab und David musste sich alle Mühe geben, um mit ihr Schritt zu halten. Als ihre Füße den flachen Boden berührten, rannte sie los, ohne auf die dunklen und stummen Häuser an den Seiten zu achten, sie sah vor sich nur das Feuer. Schnell und mühelos glitt sie dahin, wie mit dem Hubbrett auf einer offenen geraden Strecke.
Tally rannte, bis sie das Feuer erreicht hatte, und kam dort zum Stehen, als Hitze und Rauch ihr entgegenschlugen. Sie hob die Hand und öffnete die Kette.
"Tally?" David holte sie keuchend ein, in seinem Gesicht stand
Verwirrung. Atemlos rang er um Worte.
"Nein.", sagte sie. "Sieh einfach her."
Der Anhänger pendelte an seiner Kette in ihrer Faust hin und her
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