Verlockend wie ein Dämon
Gott einfach über Amandas Verlust hinweg?
Während sie die Treppe hinaufstieg, nickte sie dem kahl werdenden katholischen Priester zu, der vor einer Säule beim Haupteingang stand. Er lächelte zurück und gab ihr damit die Gewissheit, dass von den Tränen auf ihrem Gesicht keine Spur zurückgeblieben war. Make-up übertünchte die violetten Flecken unter ihren müden Augen, und ein frisches weißes T-Shirt sowie eine khakifarbene Hose erfüllten erstaunlich gut ihren Zweck, die Passanten von Lenas innerer Ruhe zu überzeugen.
Doch innere Ruhe war ein Zustand, den sie nie wieder würde genießen können.
Sie bezahlte den Eintrittspreis und schlug den Weg zur Ägyptischen Sammlung im Sackler-Flügel ein. Sie hatte sich den Tempel von Dendur als Treffpunkt ausgesucht. Seine wohltuende Vertrautheit gab ihr Kraft. Außerdem war er außerordentlich beliebt und gut besucht, oft kamen ganze Busladungen von Kindern dorthin, dazu der stete Strom von Touristen. In der Tat sperrte gerade eine Horde von uniformierten Schulmädchen bewundernd Mund und Nase vor den Reliefs auf, die in die Sandsteinwände des Tempels gemeißelt waren.
Sie wusste, dass der genaue Zeitpunkt, wann sie einander treffen würden, außerhalb ihres Einflusses lag, und so umrundete sie langsam den Tempel und rief sich die atemlose Aufregung in der Stimme ihres Vaters in Erinnerung, als sie ihn zum ersten Mal über den Tempel hatte sprechen hören. Solches Interesse hatte er nur noch selten nach dem Tod ihrer Mutter gezeigt, es sei denn, es ging um Kunstgegenstände.
»Verzeihung?«
Sie fuhr auf dem Absatz herum.
Hinter ihr stand ein dunkelhaariger Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren in einem karierten Hemd. Sein Arm lag um die Schultern eines jungen Mädchens mit Brille. Er lächelte und hielt Lena seine Nikon-Kamera hin. »Wären Sie wohl so freundlich und würden ein Foto von meiner Tochter und mir vor dem Tempel machen?«
Sie sah ihm tief in seine blauen Augen, bevor sie antwortete. Er wirkte echt.
»Sehr gern.«
Die beiden stellten sich in Positur, strahlten in die Kamera und blieben angenehm geduldig stehen, während sie ein paar Fotos schoss. Fröhliche Erinnerungen an glückliche Zeiten. Ihre Hand zitterte, als sie ihm die Kamera zurückgab.
»Danke«, sagte der Mann. Seine Tochter zog an seinem Arm und flüsterte ihm zu, dass sie eine Münze in das L-förmige, schimmernde Wasserbassin werfen wollte. Er gab ihr eine Handvoll Münzen, sah ihr einen Augenblick lang nach und schenkte Lena ein weiteres Lächeln, diesmal begleitet von ehrlichem Interesse. »Ich bin wirklich froh, dass Sie eingesprungen sind. Es ist immer schwierig, Fotos von uns beiden zu bekommen.«
Lena zermarterte sich das Hirn nach den richtigen Worten, um ihren neuen Verehrer zu entmutigen. Bevor sie antworten konnte, stieß eine altmodisch gekleidete Frau mit grauem Haar und hölzernem Gang gegen seinen Arm. Lenas Bewunderer schnappte nach Luft. Normalerweise wäre es eine vollkommen natürliche Reaktion gewesen. Jemand, der weniger vertraut damit war, wie es sich anhörte, wenn ein Höriger Dämon von einem Wirt zum anderen wechselte, hätte ihr keinerlei Bedeutung beigemessen.
Das antike Goldamulett um Lenas Hals begann zu pulsieren, und ihr Blick versenkte sich in seine Augen. Ja, da war er: der tiefschwarze Makel des Bösen. Der Dämon Malumos war in diesen Körper gefahren.
Übelkeit wühlte in ihrem Magen.
Die Lippen des Mannes kräuselten sich in der Nachbildung eines Lächelns. Doch an die Stelle der ehrlichen Bewunderung war nun dämonische Hinterlist getreten. »Sie sehen sehr gut aus, Ms Sharpe. Niemand, der Ihrer Schönheit ansichtig wird, würde meinen, dass Ihnen vor zwei Tagen ein Kriegsdämon fast alle Knochen im Leib gebrochen hat.«
Sie erwiderte nichts darauf.
»Wir sind noch immer verblüfft darüber, dass Sie ihn angegriffen haben. Es war eine sinnlose Geste.«
»Er war hinter Amanda her.«
»Natürlich war er das. Das elende Gör hat es gewagt, eine der Münzen aus dem Mantelfutter des Protektors, das ich aufgerissen hatte, zu stehlen.« Er musterte sie nachdenklich. »Sie ist trotz Ihrer Bemühungen gestorben. Alles, was Sie ihr verschafft haben, waren ein paar Minuten mehr Leben.«
»Dessen bin ich mir bewusst.« Sie wandte sich ab und schluckte hart, doch die Trockenheit in ihrer Kehle besserte sich nicht. Ihr Gegenüber, das sie an ihr Versagen erinnerte, verletzte sie tiefer, als sie es für möglich gehalten hätte. »Warum
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