Verlockende Angst
zurück– sie lösten ihrerseits auch Reaktionen bei ihm aus.
13. Kapitel
D ie Trauer verschwand auch nicht, als ich die Augen aufschlug und feststellte, dass die Sonne morgens noch immer aufging. Und der Schmerz ließ auch nicht nach, als die Sonne unterging und Sterne am Himmel standen.
Ich blieb stumm und gefühllos, bis ich in mein Zimmer zurückkehrte und die Spuren unseres Filmabends sah. Jemand hatte Olivia aus dem Zimmer gebracht, aber als ich die Bonbonstange betrachtete, die ich Caleb an den Kopf geworfen hatte, brach ich zusammen. Ich weiß nur noch, dass Seth mich auf die Arme nahm und ins Bett trug.
Irgendwann am Nachmittag ging Seth. Gegen Abend kam er wieder und versuchte mich zum Essen zu überreden. Aber ich war in den dunklen Abgrund gestürzt, der auf solche Erlebnisse folgt. Vielleicht hatte ich mich ja nie mit Moms Tod auseinandergesetzt und Calebs Verlust hatte alles wieder an die Oberfläche gebracht. Ich wusste es wirklich nicht, aber wenn ich an sie dachte, dachte ich gleich an Caleb und unsere Geisterboote.
Ich schlief nur noch. Es war der tiefe Schlaf, in dem die Albträume der Realität mich endlich nicht mehr erreichten. In den kurzen, zufälligen Momenten, wenn ich wach war und mir meine Umgebung bewusst machte, sehnte ich mich nach Caleb– und nach meiner Mom. Sie sollte mich umarmen. Sie sollte mir sagen, dass alles wieder gut werden würde. Und mein Herz konnte die Vorstellung nicht ertragen, nun auch um Caleb trauern zu müssen.
Seth blieb bei mir, kämpfte erbittert um meinen Schutz und erlaubte weder Marcus noch einem der Gardisten, mich zu besuchen. Er hielt mich auf dem Laufenden, was außerhalb meines Zimmers vor sich ging. Die Halbblüter wurden noch einmal untersucht, aber man hielt Sandra für die Urheberin des ersten Angriffs. Sie war Wächterin gewesen, daher hatte sie die Insel häufig betreten und wieder verlassen– so oft, dass man sie nicht enttarnt hatte, als die Wächter und Gardisten untersucht worden waren. Die ganze Zeit über hatte man die Studenten verdächtigt– dabei war es eine Wächterin gewesen.
Seth wollte mir auch einreden, dass ich keine Schuld an Calebs Tod trug. Als das nicht gelang, verlegte er sich auf die Taktik, dass Caleb das nicht gewollt hätte. Schließlich versuchte er mich mit Sticheleien und witzigem Wortgeplänkel aus der Erstarrung zu reißen. Ich glaube, am dritten Tag erklärte er mir, ich röche schlecht.
Irgendwann war Seth mit seinem Latein am Ende. Er streckte sich aus, legte den Arm um mich und wartete ab. Nach einer Weile merkte ich, dass mein Kummer auf ihn übersprang. Seth wusste auch nicht, wie er damit fertigwerden sollte, und am vierten Tag war ihm zumute, als hätte er ebenfalls seinen besten Freund verloren. So lagen wir beide schweigend und zutiefst bekümmert da.
Wie zwei Seiten derselben Medaille.
Irgendwann mitten in der Nacht beugte er sich über mich. » Ich weiß, dass du nicht schläfst. « Ein paar Sekunden später strich er mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht. » Alex « , sagte er leise, » morgen Mittag findet die Trauerfeier für Caleb statt. «
» Warum… warum nicht bei Sonnenaufgang? « , fragte ich mit heiserer Stimme.
Seth rückte näher heran. Sein Atem war warm. » Getötete Gardisten werden bei Sonnenaufgang begraben, aber Caleb war nur ein halbblütiger Student. «
» Caleb… verdient eine Trauerfeier bei Sonnenaufgang. Diese Tradition wäre ihm angemessen. «
» Ich weiß. Ich weiß es ja. « Seth seufzte tief und traurig. » Steh auf, Alex! Du musst hingehen. «
Ich wappnete mich gegen den scharfen Schmerz, aber er durchfuhr mich trotzdem. » Nein. «
Er legte den Kopf neben mich. » Nein? Das ist nicht dein Ernst, Alex. Du musst gehen. «
» Ich kann einfach nicht. Ich gehe nicht hin. «
Seth fing immer wieder davon an, bis ihn Enttäuschung und Wut überwältigten. Er sprang vom Bett auf. Ich wälzte mich auf den Rücken und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. Meine Haut fühlte sich schmutzig an.
Seth stand am Fuß des Betts und wiederholte meine Geste. » Ich weiß, das… das alles… ist furchtbar schwer für dich, Alex. Aber du musst es tun. Das bist du Caleb schuldig. Und dir selbst. «
» Das verstehst du nicht. Ich kann nicht hingehen. «
» Du bist albern! « , brüllte er. Es störte ihn offenbar nicht, wenn das ganze Stockwerk aufgeweckt wurde. » Hinterher wird es dir leidtun! Reicht dir dein ganzes Elend noch nicht? «
Es gibt eine feine Grenze
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