Verlockende Angst
zwischen Wut und Kummer und auf der schwankte ich dahin. Doch dann packte mich die Wut und ich erhob mich auf die Knie. » Ich will nicht sehen, wie sie seinen Körper in die Luft heben und verbrennen. Seinen Körper– Calebs Körper! « Mir brach die Stimme, zusammen mit meinem Herz. » Es ist Caleb, den sie verbrennen werden! «
Der Ärger schwand aus Seths Gesicht, einfach so. Er beugte sich nach vorn. » Alex… «
» Nein! « Ich hob den Arm und achtete nicht darauf, dass er zitterte. » Du verstehst das nicht, Seth. Er war schließlich nicht dein Freund. Du hast ihn kaum gekannt. Und weißt du was? Willst du wissen, was das Schlimmste daran ist? Caleb hat zu dir aufgesehen. Er hat dich vergöttert und du hast ihn vollkommen links liegen gelassen. Klar, ab und zu hast du mit ihm geredet, aber du hast ihn nicht gekannt. Er war dir nicht wichtig genug. «
Seth rieb sich das Kinn. » Das wusste ich nicht. Wenn ich daran denke… «
» Du warst viel zu beschäftigt mit den Mädchen und hast dich wie ein arroganter Armleuchter aufgeführt. « Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, taten sie mir leid. Ich setzte mich wieder. Mein Herz raste und krampfte sich schmerzhaft zusammen. » Du hast… nichts getan… «
» Jetzt versuche ich es aber. « Seine Augen erwachten blitzend zum Leben und glühten bernsteinfarben. » Was soll ich denn noch tun? Ich bin bei dir geblieben… «
» Ich habe dich nicht darum gebeten! « , schrie ich so laut, dass mir der Hals wehtat. Ich musste mich beruhigen. Wenn ich so weitermachte, würden bald darauf die Gardisten ins Zimmer stürmen. » Geh einfach! Bitte. Lass mich einfach allein! «
Seth starrte mich eine gefühlte Ewigkeit lang an, und dann ging er und knallte die Tür hinter sich zu. Ich sank zurück aufs Bett und ballte die Hände zu Fäusten.
Ich hätte das alles nicht sagen dürfen.
Die ganze Zeit hatte ich mir Sorgen gemacht, nicht alles im Griff zu haben. Ironischerweise aber hatte ich von Anfang an keine Kontrolle über meine Handlungen gehabt. Wie hatte ich mir nur dauernd etwas vormachen können? Kontrolle bedeutete vernünftiges Handeln, zumindest in den meisten Fällen. Aber ich hatte völlig ungebremst gehandelt– leichtsinnig. Bei der Überlegung, Kontakt zum Covenant aufzunehmen, nachdem Mom und ich fortgegangen waren, hatte mein Herz entschieden. Dahinter steckte keine Logik. Mein Herz hatte auch jede freundschaftliche Verbindung zu Aiden zerstört. Mein Herz und mein Egoismus hatten mich verleitet, mit Caleb über das Gelände zu schleichen. Wären wir einfach in meinem Zimmer geblieben– oder hätte ich nicht eine Woche lang geschmollt–, hätte mich Caleb nicht aufzuheitern brauchen. Wir wären gar nicht erst losgezogen, um etwas zu trinken zu besorgen.
Und er wäre nicht gestorben.
Keine Ahnung, wie lange ich mich zwischen den zerwühlten Decken hin und her wälzte. In meinem Kopf zogen im Schnelldurchlauf meine Kindheit mit Caleb, die drei langen Jahre ohne ihn und jeder einzelne Augenblick vorüber, den ich seit meiner Rückkehr an den Covenant mit ihm verbracht hatte. Ich drehte mich um und rollte mich zusammen. Ich vermisste ihn– und Mom fehlte mir. Der Tod der beiden hatte mit mir zu tun, mit Entscheidungen, die ich getroffen oder nicht getroffen hatte. Taten oder Tatenlosigkeit. In diesen Stunden hörte ich immer wieder Marcus’ Worte. Alles, was du tust …
Am fünften Tag, dem Tag von Calebs Trauerfeier, ging die Sonne früh auf und strahlte heller als an jedem Novembermorgen in meiner Erinnerung. In weniger als vier Stunden würden Calebs sterbliche Überreste für immer verloren sein. Fünf Tage seit seinem Tod, einhundertachtundzwanzig Stunden, seit ich ihn zuletzt berührt und lachen gehört hatte, und über siebentausend Minuten, in denen ich mich allmählich auf eine Welt eingestellt hatte, in der es ihn nicht mehr gab.
Und nur wenige kurze Stunden, seit mir klar geworden war, dass ich nie etwas im Griff gehabt hatte.
Ich setzte mich auf, warf die Decken beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. Als ich aufstand, wurde mir erst einmal schwindelig, aber ich ging ins Bad und starrte mein Spiegelbild an.
Ich sah furchtbar aus.
Einer der Daimonen hatte violette Prellungen an meinem Kiefer und Wangenknochen hinterlassen. Mein Haar hing in dicken Strähnen herunter. Meine Augen waren rot unterlaufen. Langsam, müde zog ich die ekelhaften Sachen aus und ließ sie zu Boden fallen. In der Dusche lehnte ich die Stirn an die
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