Verlockende Angst
es wiedergutzumachen. Caleb… das hat er nicht verdient. Wären wir in meinem Zimmer geblieben, dann würde er noch leben. Das weiß ich. «
» Alex, bitte! «
» Ich weiß, ich habe mich schwachsinnig benommen. « Mir brach die Stimme. » Wenn ich noch einmal zurückkönnte, würde ich… Ich würde den Platz mit ihm tauschen. Ich würde… «
» Hör auf! « , flüsterte er und wischte mir mit den Daumen die Tränen ab. » Bitte hör auf zu weinen! «
Mein Inneres schien sich zu einem einzigen riesigen Knoten zusammenzuballen. » Es tut mir so leid. Ich möchte alles rückgängig machen und hätte gern einen zweiten Versuch, um das nicht noch einmal durchstehen zu müssen. «
Er stieß einen erstickten Laut aus, zog mich an seine Brust und hielt mich fest, bis mein Herz nicht mehr raste und meine Tränen versiegten. » Du musst das noch einmal durchstehen und du bekommst auch keinen zweiten Versuch, Alex. Keiner von uns bekommt eine solche Chance. Du kannst dich nur vorwärtsbewegen, und der erste Schritt ist der, zu Calebs Trauerfeier zu gehen. «
Ich holte tief Luft. » Ich weiß. «
Seth legte die Fingerspitze an mein Kinn und schob meinen Kopf zurück. In diesem Augenblick wurde ihm wohl klar, dass ich nur mit einem Handtuch bekleidet war. Sein Blick huschte nach unten und dann schien sein ganzer Körper zu erstarren. Vielleicht lag es an den heftigen Gefühlen, die uns beide beherrschten, vielleicht an unserer besonderen Verbindung– jedenfalls fühlte sich plötzlich jeder Quadratzentimeter meines Körpers warm an.
Merkwürdig, dass unsere Körper alle diese schrecklichen Erfahrungen so schnell vergessen konnten. Vielleicht sehnten sich auch unsere Seelen nach Wärme und Berührung und suchten nach Beweisen, dass wir uns noch in der Welt der Lebenden befanden. Ich lehnte mich an Seths Brust, legte eine Wange an seine Schulter und schloss die Augen.
» Du zitterst ja « , murmelte er.
» Mir ist kalt. «
Seine Hände strichen über meine Schultern. » Du musst dir wirklich etwas anziehen. So solltest du nicht länger herumlaufen. «
» Du bist hier hereingeplatzt. Dafür kann ich nichts. «
» Trotzdem. Du musst dir etwas anziehen. «
Ich biss mir auf die Lippen und löste mich von ihm. Er erwiderte meinen Blick aus unnatürlich leuchtenden Augen. » Okay. Aber zuerst musst du mich loslassen. «
Seine Hände, die auf meinem Rücken lagen, spannten sich an, und eine Sekunde lang… schien er mich nicht freigeben zu wollen. Ich wusste nicht recht, wie ich das finden sollte. Schließlich ließ er doch los, aber er beugte sich herunter und legte den Kopf an meine Stirn. » Jetzt riechst du wirklich besser. Ich finde, wir machen Fortschritte. «
Meine Lippen zuckten. » Danke. «
Die Anspannung in seinem Körper ließ offenbar nach. » Bist du bereit? «
Ich holte tief Luft und hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen zu atmen. » Ja. «
Als ich klein war, hatte meine Mutter einmal gesagt, nur im Tod gälten ein Reinblut und ein Halbblut als ebenbürtig. Beide stünden am Ufer des Styx und würden darauf warten, dass ihre Seelen ins Jenseits übergesetzt würden.
Als Seth und ich zum Friedhof kamen, waren alle anderen schon da. Die Reinblüter standen vorn, vor den Halbblütern, was für mich unlogisch war. Caleb war einer von uns gewesen, kein Reinblut. Warum sollten sie also näher bei ihm stehen? Aiden hätte gesagt, das sei Tradition.
Verkehrt war es trotzdem.
Gemeinsam mit Seth ging ich an den Gruppen vorbei und wich den neugierigen oder verächtlichen Blicken aus. Immer wieder wanderte mein Blick zu der vorderen Gruppe, obwohl ich mir einredete, keine Ausschau nach einem gewissen dunkelhaarigen Reinblut zu halten. Aiden war der Letzte, den ich sehen wollte.
Schließlich hielt Seth inne und ich blieb ebenfalls stehen. Seit wir mein Zimmer verlassen hatten, war er stumm geblieben, aber er warf mir immer wieder Blicke zu. Er befürchtete wahrscheinlich, dass ich wieder ausflippen könnte. Ich strich mir das feuchte Haar zurück, sah zu ihm auf und kaute auf meiner Unterlippe herum.
» Du hast nicht vor, mir zu danken, oder? « Seth klang belustigt.
» Also… eigentlich schon, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. «
» Komm schon! Ich möchte es Wort für Wort hören. Es wird sicher das erste und letzte Mal sein. «
Ich blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an. In der Ferne erkannte ich den Scheiterhaufen und den in weißes Leinen gehüllten Körper. » Danke, dass
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