Verlockende Angst
kalten Fliesen und in meinem Kopf breitete sich eine angenehme Leere aus.
Bis ich endlich aus der Dusche stieg, platschte nur noch kaltes Wasser auf meine Haut. Ich wickelte mich in ein großes weißes Handtuch. Als ich stumpfsinnig einen Kamm durch mein wirres Haar zog, ging mir etwas auf.
In dem schwachen Licht wirkten die Narben, mit denen mein Hals bedeckt war, glänzend und uneben. Ich trug mein Haar immer offen und zog langärmelige Shirts an, um die roten Flecken an den Armen zu verbergen. Die Narben schienen nie gänzlich zu verheilen. Ich tat alles nur Mögliche, um sie zu verstecken. Narben, die ich wegen meiner eigenen leichtsinnigen, unbedachten Handlungen trug. So hässlich.
Ich hörte wieder Trainer Romvis Worte. Sie sollten sich weniger Gedanken um Ihre Eitelkeit machen.
Der grobzinkige Kamm glitt mir aus den Fingern. Eilig verließ ich das Bad und beugte mich in der Küchenecke über den kleinen Weidenkorb hinter der Mikrowelle. Ich wühlte mich durch Servietten, Büroklammern und anderen Krimskrams, den ich nie brauchte. Dazwischen fand ich eine Küchenschere mit orangefarbenen Griffen. Ich bezweifelte, dass sich damit überhaupt etwas schneiden ließ, aber ich musste es versuchen.
Ich kehrte ins Bad zurück und zog mein Haar über die Schulter nach vorn. Meine großen braunen Augen erwiderten meinen Blick im Spiegel. Das dichte feuchte Haar hing mir bis über die Brust hinunter. Ohne zu überlegen, setzte ich die Schere knapp über den nackten Schultern an.
Eine Hand entriss mir so plötzlich die Schere, dass ich kreischend zurückfuhr. Seth stand da, ganz in Schwarz gekleidet. Krampfhaft hielt ich mein Handtuch fest und starrte ihn an.
» Was tust du? « Seth hielt die Schere, als wäre sie eine Schlange, die ihre Giftzähne tief in seine Haut schlagen wollte.
» Ich… ich bin eitel. «
» Du wolltest dir die Haare abschneiden? « , fragte er ungläubig.
» Ja, das war der Plan. «
Er schien noch weiterdiskutieren zu wollen, wandte sich dann aber um und warf die Schere auf die Kommode. » Zieh dich an! Sofort. Du gehst zu Calebs Trauerfeier. «
Ich hielt mein Handtuch noch fester umklammert. » Ich gehe nicht. «
Seth beachtete mich nicht und betrat mein Schlafzimmer. » Ich streite nicht mehr mit dir. Du gehst zu der Trauerfeier, und wenn ich dich hinzerren muss. «
Das nahm ich ihm nicht ab und war umso überraschter, als ich die Badezimmertür schließen und verriegeln wollte und Seth herumfuhr. Er löste meine Hand von der Tür und zog mich aus dem Bad.
Durch die Erschöpfung und den Hunger war ich nicht schnell genug und hielt mein Handtuch fest, als hinge mein Leben davon ab. Schwach, wie ich war, lag ich schließlich auf seiner Brust, und wir befanden uns auf dem Boden vor dem Bett. Ich spürte sein Herz an meiner Schulter hämmern und seinen Atem an meiner Wange.
Seths Hände hielten meine Arme fest und verhinderten, dass ich ihm einen gemeinen Ellbogenstoß ins Gesicht versetzen konnte. » Warum… warum verhältst du dich immer so? Wieso? Warum hast du dir das angetan? Das hätte alles vermieden werden können. «
Die Kehle wurde mir eng– eine Warnung, dass die gähnende Leere immer noch in meinem Innern lauerte. » Ich weiß. Bitte… bitte sei nicht böse auf mich! «
» Ich bin nicht böse, Alex. Okay, vielleicht ein kleines bisschen. « Er bewegte sich kaum merklich und lehnte den Kopf an meine Wange. Erst mehrere Sekunden später sprach er weiter. » Wie konntest du dir das antun? Du– gerade du – hättest es doch besser wissen müssen. «
Mir stiegen Tränen in die Augen. » Es tut mir leid. Wir wollten nicht… «
» Du hättest da draußen sterben können, Alex– oder noch Schlimmeres. « Seth stieß einen zittrigen Atemzug aus, und seine Finger legten sich um meine Oberarme. » Weißt du, was ich gedacht habe, als ich deine Panik spürte? «
» Es tut mir leid… «
» Das Leidtun hätte verdammt noch einmal nichts genutzt, wenn ich dich verloren hätte. Und weswegen? « Er legte die Hände um mein Gesicht und drehte meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen musste. » Warum? Wegen der Geschichte mit Aiden? «
» Nein. « Mir flossen die Tränen über die Wangen. » Ich habe es getan, weil ich dumm war. Wir wollten uns nur etwas zu trinken besorgen. Mit einem Daimonenüberfall haben wir doch nicht gerechnet. Könnte ich doch alles rückgängig machen! Dafür täte ich alles. «
» Alex. « Seth schloss die Augen.
» Es ist mir ernst. Ich täte alles, um
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