Verlockende Angst
jemanden stieß, hob ich den Blick und wischte mir die Augen. » Oh, Entschuldigung… « Mitten im Satz brach ich ab.
Ich war nicht gegen einen Menschen, sondern gegen eine Statue gelaufen. Ein verhaltenes Lachen stieg aus meiner Kehle auf, als ich zu dem auffallend schönen, aber traurigen Steingesicht aufsah. Die Männerstatue war in der Hüfte leicht eingeknickt und streckte mit einer winkenden Geste eine nach oben geöffnete Hand aus. Mein Blick glitt zum Sockel, in den der Name Thanatos eingraviert war. Unter seinem Namen befand sich ein Symbol– eine nach unten weisende Fackel.
Ich hatte das Zeichen schon einmal gesehen– an Trainer Romvis Arm.
14. Kapitel
M it einem genervten Seufzer schob ich die Hände in die Taschen meines Kapuzen-Sweatshirts und betrachtete den Nachthimmel. Sterne lockerten die Dunkelheit auf und manche leuchteten heller als andere. Zum letzten Mal hatte ich den dunklen Himmel hinter der Mensa gesehen, als ich Calebs kalten Körper in den Armen gehalten hatte. Caleb.
Ich bezwang die aufsteigende Welle aus Kummer und Reue, bevor sie mich gänzlich überrollte, und hing wieder einem Gedanken nach, der mir seit der Trauerfeier nicht mehr aus dem Kopf ging. Warum in aller Welt trug Romvi das Symbol des sanften Todesgottes als Tattoo auf dem Arm? War er nicht derselbe Gott, der dem alten Buch zufolge verantwortlich war für den Tod von Solaris und dem Ersten Apollyon? Vielleicht hatte es keine besondere Bedeutung, aber das Bild schob sich immer wieder vor mein inneres Auge.
» Bist du okay? «
Jeder Muskel meines Körpers erstarrte. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass die Fahrt in die Catskills schließlich nur elf Stunden dauerte– elf Stunden eingesperrt in einem Auto mit dem Kerl, den ich liebte und den ich mehr oder weniger angefleht hatte, meine Liebe zu erwidern. Vielleicht hatte ich es nicht so deutlich ausgesprochen, aber so empfand ich es. Das würde echt leicht werden. Ja, so was von einfach.
» Alex? «
Ich wandte mich um. Aiden verstaute gerade meinen Koffer im hinteren Teil des Hummer-Geländewagens und beobachtete mich dabei über die Schulter hinweg. Mein Blick irrte umher, denn ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. » Ja, ich habe nur nachgedacht. «
» Ist das dein ganzes Gepäck? «
Ich nickte und tippte mit der Schuhspitze auf den Asphalt. Ich musste mich normal benehmen, sonst erwartete mich die längste Autofahrt meines Lebens. » Wie… wie geht’s Deacon? «
Er brauchte ein paar Sekunden, um zu antworten. » Ganz gut. « Er schloss die Heckklappe. » Er lässt dir ausrichten, dass es ihm ehrlich leidtut, was… passiert ist. «
Ich wandte mich zu ihm um, hielt aber den Blick starr auf seine Schulter gerichtet– eine wirklich attraktive Schulter–, als ich eine Silberkette um seinen Hals entdeckte. Sie verschwand im Ausschnitt seines Pullovers. Merkwürdig, Aiden trug nie Schmuck. » Sag ihm danke. «
Aiden nickte und trat auf die Seite des Fahrzeugs, blieb dann aber so unerwartet stehen, dass ich ihm fast gegen den Rücken geprallt wäre. Er wandte sich um, nahm meinen Arm und stützte mich. Einen Lidschlag lang trafen sich unsere Blicke, dann ließ er meinen Arm los.
Er trat zurück. » Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? « Er unterbrach sich und sah zu Leon hinüber, der unter dem Vordach des Covenant stand.
» Wir wollten uns nur etwas zu trinken aus der Cafeteria holen. « Ich schluckte, aber der Klumpen in meinem Hals löste sich nicht auf. » Wir wollten uns Filme ansehen. «
» Sind wir fertig? « , rief Leon. » Wenn wir vor Mittag in den Catskills sein wollen, müssen wir los. «
» Ja. « Aiden wandte sich wieder zu mir um. » Alex? «
Vorsichtig hob ich den Kopf, was sich als Riesenfehler erwies. Ein gänzlich anderer Schmerz zerriss mir die Brust.
Sein Blick glitt über mein Gesicht. » Es tut mir… schrecklich leid wegen Caleb. Ich weiß, er war dein bester Freund. «
Ich brachte kein Wort heraus.
Er sah mich an und seine Augen leuchteten in hellem Silber. » Tu… so etwas nie wieder! Bitte. Versprich es mir! «
Am liebsten hätte ich gefragt, was es ihm ausmache, wenn ich mich vor einen Daimon warf, aber ich sagte etwas ganz anderes. » Versprochen. «
Aiden musterte mich noch einen Moment lang und brach den Blickkontakt ab. Danach stiegen wir in den Geländewagen. Ich setzte mich nach hinten, während Aiden sich auf dem Sitz vor mir niederließ. Leon fuhr und der andere Gardist nahm neben mir Platz.
Ich lehnte den
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