Verlockende Angst
ich den unordentlichen Knoten und ließ das Haar auf meine Schultern fallen. Leon fuhr alle Fenster herunter und sofort spähten die Gardisten in den Wagen und musterten jeden von uns… auf sichtbare Bissmale hin.
Ich lehnte mich zurück, begegnete aber dem durchdringenden Blick des dunkelhäutigen Gardisten, der mich einmal und dann ein zweites Mal von oben bis unten musterte. Ich hatte das Gefühl, als glühten die Daimonenmale unter meiner dichten Haarmähne. Was hätten sie wohl getan, wenn sie die Narben entdeckt hätten. Mich erschossen?
Ich war heilfroh, als die Musterung endlich beendet war. Auf ein Handzeichen der Gardisten hin erbebte das hohe Tor und öffnete sich knarrend. Ich stieß den Atem aus. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte. » Soll ich die ganze Zeit, während wir hier sind, mein Haar offen tragen? «
Aiden warf mir einen zornigen Blick zu und presste die Lippen zu einer harten, schmalen Linie zusammen. » Nein. Aber es wäre mir lieber, du würdest keinen schießwütigen Gardisten herausfordern. «
Das konnte ich noch einsehen.
Wir rollten durch das Tor und fuhren eine ganze Strecke die Straße entlang, bis der Baumbestand dünner wurde. Ich lehnte mich an die Rückseite von Aidens Sitz, bis endlich der New Yorker Covenant in Sicht kam.
Zumindest die über sechs Meter hohe Mauer aus weißem Marmor, die ihn umgab.
Nachdem wir eine weitere Gruppe schwer bewaffneter Gardisten passiert hatten, fuhren wir schließlich auf das Gelände. Es unterschied sich nicht allzu sehr von unserer Niederlassung in Carolina. Überall waren Statuen verteilt. Während unsere Götterbilder im Sand standen, erhoben sich diese allerdings aus dem grünsten Gras, das ich je gesehen hatte.
Das erste Gebäude, das ich zu sehen bekam, war eine echte Villa– so etwas hatte ich mitten in den Catskills nicht erwartet. Ich hatte mal gehört, die Rockefellers besäßen ein Haus in dieser Gegend, aber im Vergleich zu dem gigantischen Kasten war das vermutlich eine Hütte. Bis der Wagen vor dem Sandsteinbau anhielt, zählte ich sechs Stockwerke, mehrere voll verglaste Räume und einen Ballsaal mit Glaskuppel. Ich wollte den anderen schon folgen, aber Aiden hielt mich auf.
» Warte einen Moment, Alex! «
Meine Finger, die auf dem Türgriff lagen, erstarrten. » Was denn? «
Aiden hatte sich umgewandt, und seine Augen… Götter, diese Augen zogen mich magisch an und erfüllten mich mit solcher Wärme, dass ich seinen Mund fast auf meinen Lippen schmeckte. Schade nur, dass seine Worte die Stimmung gründlich verdarben.
» Vermeide alles, was unerwünschte Aufmerksamkeit erwecken könnte. «
Meine Finger krallten sich um den Türgriff. » Habe ich nicht vor. «
» Das ist mein Ernst, Alex. « Er sah mich eindringlich an. » Hier ist niemand so nachsichtig wie dein Onkel oder dein Stiefvater. Ich kann mir vorstellen, dass man dich bei deiner Anhörung in die Enge treiben will. Einige der Ratsmitglieder… sind nicht gerade deine Fans. «
Sein knapper, berufsmäßiger Ton rief einen pochenden Schmerz in meiner Brust hervor. Wo war der zärtliche Aiden geblieben, der immer für mich da sein wollte und der mich behutsam auf den Boden zurückgeholt hatte, wenn ich im Training mal wieder ausgerastet war? Götter, es hatte viele solcher Momente gegeben, aber sie waren alle dahin.
Aiden gab es nicht mehr. Wie Caleb, aber auf andere Weise. Ich hatte sie beide verloren. Mein Zorn verflog. Seufzend wandte ich mich dem Fenster zu. » Damit hatte ich auch gar nicht gerechnet. Ich benehme mich schon. Meinetwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. « Wieder wollte ich die Tür öffnen.
» Alex? «
Langsam wandte ich mich zu ihm um. In diesem Moment schottete Aiden sich nicht so stark ab, und in seinem Blick stand ein tiefer, verstörender Schmerz. Mehr noch– beinahe eine gewisse Unsicherheit. Doch er nahm sich zusammen, als setze er eine gleichgültige Maske auf, hinter der jegliches Gefühl verschwand.
» Sei einfach vorsichtig! « Seine Stimme klang merkwürdig hohl.
Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, doch rings um den Wagen entfaltete sich hektische Betriebsamkeit und hinderte mich daran. Dienstboten– ganze Trauben halbblütiger Diener– stürzten sich auf den Geländewagen, öffneten die Türen und luden das Gepäck aus. Mir klappte die Kinnlade herunter, als ein blonder Junge, ungefähr in meinem Alter, mir unterwürfig die Tür öffnete. Auf seine Stirn war ein durchkreuzter
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