Verlockung der Leidenschaft: Roman (German Edition)
flößten jedem Mitglied des Stammes ein, sich für das Wohlergehen aller verantwortlich zu fühlen. Die Familie bedeutete ihnen viel.
Darum war er nach England gekommen.
Es überraschte ihn nicht, dass Lily als Erste das Wort ergriff. »Wir sind hier«, erklärte sie steif, als könnte er das nicht sehen. Mit ihren 22 Jahren war sie die Älteste. Wenn er sie sich so anschaute, fragte er sich unwillkürlich, warum sie bisher noch nicht geheiratet hatte. Ihr Haar war kastanienbraun und glänzte, die Haut war makellos und blass. Die Augen ein klares Blau. Er würde sie nicht unbedingt als große Schönheit bezeichnen, aber sie war auf jeden Fall sehr hübsch, und von den Treffen mit den Anwälten seines Vaters wusste er, dass ihr eine großzügige Mitgift zustand.
James hatte sie ihm als eine Frau beschrieben, die von Natur aus zu unabhängig war. Vielleicht stimmte das. Sie machte zweifellos keinen Hehl daraus, dass sie nicht wünschte, nach London zu kommen. Jonathan hatte allerdings darauf bestanden. Er konnte sonst kaum die neuen Garderoben und die anderen Kleinigkeiten überwachen – die ihm ohnehin ein Mysterium blieben –, die auf ihn zukamen, wenn er drei junge Ladys auf einmal in die Londoner Gesellschaft einführte. Sie hatten eine Tante, die möglicherweise als Anstandsdame zur Verfügung stünde, wenn sie nicht an einer Krankheit der Gelenke litt und sich noch in Essex aufhielt, weil es ihr unmöglich war, sich auf die beschwerliche Reise zu begeben.
Daher lag es nun an ihm. Lillian hatte bereits einmal Aufnahme in die Gesellschaft gefunden. Er konnte jede Hilfe brauchen, und wenn sie nicht bereit war, ihm den Gefallen zu tun, so sollte sie es wenigstens um ihrer jüngeren Schwestern willen tun.
»Eure Ankunft nehme ich gebührend zur Kenntnis.« Er betrat den Salon und trat zu dem Tisch mit der Brandykaraffe. Wenn er schon mit drei Frauen sprechen musste, die ihm nahezu fremd und nicht unbedingt freundlich gesinnt waren, schien eine kleine Stärkung keine schlechte Idee zu sein. »Wie war die Reise?«, fragte er höflich.
»Erträglich.«
Er nahm ein Glas, schenkte sich etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit ein und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck. Das erlaubte ihm, einen Moment lang über seine Antwort nachzudenken. Schließlich kannte er seine Halbschwestern nicht besonders gut, und kulturell trennte sie ein ganzer Ozean. »Das freut mich zu hören.«
Drei blaue Augenpaare beobachteten ihn mit einer Herablassung, die er vermutlich verdiente, wenn er nicht mehr als einen so unverfänglichen Kommentar zustande brachte.
Sein Lächeln geriet etwas schief. »Lasst es mich anders formulieren. Ich freue mich sehr, weil ihr drei euch entschieden habt, zu mir nach London überzusiedeln, denn wenn ihr nicht hier seid, bin ich nicht sicher, ob ich mich mit dem nötigen Anstand zu verhalten weiß, den man vom Earl of Augustine erwarten dürfte.«
»Wenn es stimmt, was man sich erzählt«, wandte Lily frostig ein, »seid Ihr in der Hinsicht bereits gescheitert, Mylord.«
Kapitel 3
Es war sehr schwierig, eine Lüge zu leben, besonders, wenn sie ihrem älteren Bruder gegenüberstand, dessen dunklem, forschenden Blick nichts verborgen zu bleiben schien.
Sie war schlicht eine Heuchlerin!
Lily setzte sich so aufrecht hin, dass ihr Rückgrat schmerzte, und nur mit größter Kraftanstrengung gelang es ihr, dem innigen Wunsch zu widerstehen, in Tränen auszubrechen. Jonathan, der neue Earl of Augustine, blickte sie fragend an. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie ihn herausgefordert hatte.
Sie hasste ihn nicht. Denn wie konnte man jemanden hassen, den man nicht kannte? Sie verachtete das, was er für sie repräsentierte: den Wunsch ihres Vaters, eine Ungläubige in Amerika zu heiraten. Immer wieder musste sie daran denken, dass ihre Mutter nicht die Liebe seines Lebens gewesen war, sondern für ihn nur an zweiter Stelle gekommen war; die Verbindung war nach seiner Rückkehr und dem Tod seiner ersten Frau – Jonathans Mutter – von den beiden Familien geschmiedet worden.
Es war für sie schwierig, sich mit der Tatsache abzufinden, dass ihre Mutter und ihr Vater einander nie geliebt hatten. Bis heute war es ihr nicht gelungen. Es war im Grunde unnötig, dass sie darunter litt, weil ihr schließlich bewusst wurde, wie wenig sich ihre Mutter daraus machte, keine Liebe zu erfahren. Sie störte sich daran deutlich weniger als Lily und hatte ihre Rolle als Countess ausgekostet und das
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