Verlockung der Leidenschaft: Roman (German Edition)
Streifen Licht unter der Tür sehen, was bedeutete, dass sie in ihrem Wohnzimmer saß. Bestimmt las sie noch, denn das schien ihr liebster Zeitvertreib zu sein. Er marschierte auf dem Weg zu seiner Suite an der Tür vorbei, blieb stehen und zögerte, ehe er wieder zurückging und leicht an ihre Tür klopfte.
Es war ein Abend, an dem er sich von impulsiven Handlungen leiten ließ, dachte er ironisch. Seine Halbschwester öffnete die Tür. Sie trug ein Nachthemd und darüber einen Morgenrock, das volle Haar trug sie offen. Sie blickte ihn fragend an. »Ach, Ihr seid’s … Es ist schon ziemlich spät, Mylord.«
Der steife Unterton schreckte ihn nicht ab. »Trotzdem sind wir beide noch wach. Darf ich reinkommen?«
Einen Moment lang glaubte er, sie werde ihm den Zutritt verwehren, doch sie neigte widerwillig den Kopf und trat beiseite. »Es ist schließlich Euer Haus.«
Er stellte fest, wie ihr trotziges Verhalten angesichts seiner neuen Rolle als Earl ihn zunehmend verärgerte, obwohl er sie bis zu einem gewissen Grad durchaus verstehen konnte.
Doch sie hatten beide erst kürzlich den Vater verloren, und er empfand auch diese tiefe Trauer, obwohl er am Todestag seines Vaters am anderen Ende der Welt geweilt hatte und jetzt nicht von jemandem abhängig war, den er kaum kannte. Sie mussten einen Waffenstillstand schließen, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Jonathan war außerdem nicht gewillt, ihr zu gestatten, sich von der Gesellschaft fernzuhalten. Falls sie nicht zu heiraten wünschte, würde er sie natürlich angemessen unterstützen. Doch er hatte die Erfahrung gemacht, dass man ein Problem nur verschlimmerte, wenn man sich davor versteckte. Und er glaubte allmählich, dass Lillian genau das tat.
Carole und Betsy waren im Gegensatz zu ihrer Schwester in ihrer Unschuld offen und hatten heute auf dem Weg nach Hause vom Ball angeregt geplaudert. Sie hatten mit dem simplen Vergnügen junger Ladys gelacht, die in der Blüte ihres Debüts standen. Lillian war vollkommen anders.
Er behielt recht, was die Bücher betraf. Sie lagen überall verstreut: auf dem Tischchen mit Marmorplatte, neben dem Queen-Anne-Sessel direkt am offenen Kamin, auf dem Kaminsims, auf dem Fußboden.
Jonathan hob ein aufgeschlagenes Buch mit Shakespeares Sonetten auf, das sie auf ein Sofa gelegt hatte, und setzte sich seiner Schwester gegenüber. »Gibt es überhaupt noch Bücher in der Bibliothek?«, fragte er leise.
Das brachte ihm ein Lächeln ein – wenngleich nur ein flüchtiges. Lillian beobachtete ihn aus ihren kristallblauen Augen. »Ich glaube, ein paar sind noch in den Regalen. Wolltet Ihr mit mir zu so später Stunde über meine Lesegewohnheiten plaudern? Ich dachte, Ihr wärt zu dieser Zeit gewöhnlich auf dem Rücken Eures wilden Pferds unterwegs.«
»Er ist alles andere als wild. Er lässt sogar Addie auf seinem Rücken sitzen und dreht so ruhig wie ein Pony seine Runden im Hof.«
»Das würde ich niemals riskieren.«
»Wenn es ein Risiko wäre, würde ich das auch nicht tun.« Jonathan streckte entspannt die Beine aus und erwiderte ihren Blick. »Gibt es heute einen neuen, einfallsreichen Grund, warum du uns nicht zum Ball begleitet hast?«
»Ich hatte Kopfschmerzen.«
»Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen. Scheint so, als handle es sich um ein wiederholt auftretendes Leiden, Lily.«
Ihr Haar fiel wie ein Vorhang zu beiden Seiten ihres Gesichts nach vorne, als sie den Kopf neigte und auf ihre Hände blickte, die sie im Schoß gefaltet hatte. Aber diese Haltung einer Bittstellerin bewahrte sie nur einen Augenblick. Er hatte schnell begriffen, dass Lady Lillian sich nicht im Mitgefühl Anderer zu suhlen pflegte. Ihr Kinn hob sich, und sie begegnete direkt seinem Blick. »Ich habe Euch bereits gesagt, dass ich ruiniert bin. Warum soll ich die verstohlenen Blicke und das Flüstern hinter meinem Rücken ertragen, wenn ich stattdessen einen ruhigen Abend daheim verbringen und ein gutes Buch lesen kann?«
»Ich frage mich, ob es wirklich so schlimm wäre, wie du es darstellst. Niemand hat mir gegenüber auch nur mit einem Wort erwähnt, dass auf deiner Vergangenheit ein Makel liegt.«
Ihr kurzes Lachen klang höhnisch. »Natürlich macht das keiner. Sie fürchten sich alle vor Euch. Vertraut mir, Jonathan, niemand wird mich in Eurer Gegenwart beleidigen.«
Der wilde Earl. Er vermutete, er müsste eigentlich amüsiert sein, weil sein schlechter Ruf sich in der Hinsicht als nützlich erwies. Aber in Wahrheit spürte er
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