Verlockung
hereinfallen; geschieht es doch, glaubt der eigene Verstand so stark daran, dass es möglich ist, daran zu sterben. Nun ja, wie wir sehen konnten, wäre genau das wohl mit Ihnen geschehen.“
Gedemütigt rappelte ich mich auf und trottete zu meinem Platz zurück. Noch immer ruhten alle Augen auf mir. Den Rest des Unterrichts bekam ich kaum mehr mit.
Nach der Stunde stürmte ich sofort nach draußen. Ich wollte alleine sein und eilte, ohne ein Wort an meine Freundinnen, einfach davon. Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte oder was ich eigentlich vorhatte. Es war nur irgendetwas in mir, das mich stetig weiter trieb. Ich hetzte die Gänge und Flure entlang, kam an unzähligen Türen und Fenstern vorbei und blieb erst dann stehen, als meine Beine mich nicht mehr länger tragen wollten. Nun ließ ich mich an einer der Wände hinab sinken und legte meinen Kopf auf die Knie. Eigentlich sollte ich doch irgendetwas fühlen… Wut, Verzweiflung, Hass oder Trauer… Doch da war nichts. Ich fühlte mich absolut leer. Ich vermochte nicht einmal mehr zu weinen. Die Probleme, Demütigungen und Sorgen hatten sich zu einem unüberwindbaren Berg aufgetürmt. Ich wollte an nichts mehr denken. Nicht an meinen Vater, an Duke, an meine Kräfte oder die Warnung von Herr Gnat, dass man mich bald von der Schule werfen würde. Ich konnte einfach nicht mehr.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Schlagartig wurde mir klar, dass ich nicht alleine war. Vorsichtig sah ich auf und blickte ans Ende des Flures. Dort befand sich ein großes Fenster, durch das die warme Sonne strahlte. Eine Gestalt, von so vollkommener Schönheit, saß dort auf dem Fensterbrett, dass ich wie gebannt dorthin starrte und mir der Atem stockte. Night! Er wurde von der Sonne beschienen und so in goldenes Licht getaucht. Ein Engel konnte nicht mehr Glanz und Anmut ausstrahlen.
In diesem Licht wirkte er, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Ein Wesen, das zu schön war.
Wie in Trance ging ich leise auf ihn zu. Als ich fast bei ihm war, sah er auf und lächelte: „Was machst du denn hier?“
Plötzlich kam ich wieder zur Besinnung. Peinlich berührt blickte ich auf den Boden. „Ich wollte eigentlich alleine sein und bin durch die Schule geirrt, auf der Suche nach einem ruhigen Platz.“
„Da hattest du ein gutes Gespür. Ich komme öfters her, wenn ich meine Ruhe haben möchte. Es verirrt sich eigentlich nie jemand hierher.“
Schlagartig wurde ich rot. Ich wandte mich zum Gehen und versuchte möglichst unbekümmert zu wirken: „Ich will dich nicht weiter stören und geh mal weiter. War nett dich zu treffen.“
Sein Mund zog sich an einer Seite zu diesem atemberaubend schiefen Lächeln hoch, als er sagte: „Du störst mich nicht. Na komm schon, setz dich.“
In diesem Moment fiel erneut mein Verstand aus. Es war, als würde ich von seinem Gesicht, seinen Augen, seinem Lächeln angezogen. Langsam trat ich auf ihn zu, hob mich auf die Fensterbank und nahm ihm gegenüber Platz. Mein Puls schoss sofort in schwindelerregende Höhen, als ich seine Nähe spürte und in dieses unglaubliche Gesicht blickte.
Verlegen nestelte ich an meinen Fingern herum. Ich spürte wie meine Hände feucht wurden und mein Herz hart gegen die Brust schlug. Es war unvorstellbar, dass ich gestern noch seine Hand gehalten und mit ihm getanzt hatte. Inzwischen war so viel geschehen… Wieder musste ich an Duke und den Kuss denken. Night hatte es gesehen. Mein Gesicht flammte schlagartig auf, während ich die Scham mit jeder Faser meines Körpers spürte.
„Du hast das mit deinem Vater nicht gewusst, oder?“, unterbrach er meine Gedanken.
„Hat Duke, dieser Mistkerl, das also auch schon herum erzählt?!“, zischte ich wütend.
Er lächelte sanft: „Nein, hat er nicht. Ich hatte das einfach nur vermutet.“
Ich nickte stumm, während dieser quälende Berg voller Probleme sich in mir zu bewegen begann.
„Das ist einfach alles ein bisschen viel im Moment“, sagte ich mit einem Zittern in der Stimme, das mich selbst überraschte.
„Ich hör dir gerne zu, wenn du darüber reden möchtest.“
Warum musste seine Stimme dabei nur so unglaublich sanft und zärtlich sein?! In mir spielte doch ohnehin schon alles verrückt und nun konnte ich spüren, wie sich diese erdrückenden Gefühle wieder an die Oberfläche drückten und mir die Kehle zuschnürten.
„Ich weiß nicht“, krächzte ich.
Erneut sah ich ihn an, versank im tiefen Blau seiner Augen und verlor die Fassung. Es
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