Verloren: House of Night 10 (German Edition)
sich ab, holte einige Male tief Luft und rannte in den Schlund des brennenden Stalles hinein.
Die Hitze war entsetzlich. Der Rauch war so dicht, dass es schien, als versuche sie, kochende Flüssigkeit zu atmen. Einen Moment lang war Lenobia wieder in einem anderen Stall in jener schrecklichen Nacht in New Orleans. Die dicken Narben auf ihrem Rücken schmerzten in der Erinnerung an den damaligen Schmerz, und Panik drohte sie zu überwältigen und unwiderruflich in die Vergangenheit zu ziehen.
Dann hörte sie ihn husten. Hoffnung ließ ihre Panik zerschellen, und die Gegenwart und ihre Willenskraft vermochten, ihre Ängste zu überwinden. »Travis! Ich kann dich nicht sehen!«, schrie sie, während sie ein großes Stück ihres Nachthemds abriss, in die nächste Box trat und es in die Tränke tauchte.
»Hau – ab –«, krächzte er heftig hustend.
»Nein, verdammt. Ich habe schon einmal miterleben müssen, wie meinetwegen ein Mann verbrennt. Ich hasse das.« Sie warf sich das tropfnasse Stück Stoff wie einen Mantel mit Kapuze über und bewegte sich auf Travis’ Husten zu, tiefer in Rauch und Glut hinein.
Sie fand ihn neben der offenen Tür einer Box, auf Händen und Knien, hustend und würgend. Lenobia zögerte keinen Augenblick. Sie sprang in die Box und tauchte den Kleiderfetzen noch einmal ins Wasser. Dann klatschte sie sich selbst Wasser über Gesicht und Haar.
»Was zum –?« Er blinzelte hustend zu ihr auf. »Nein! Geh –«
»Keine Zeit zum Streiten. Leg dich hin.« Als er sich nicht schnell genug bewegte, schubste sie ihm die Beine unter dem Leib weg. Mit einem Grunzen fiel er auf den Rücken, und sie breitete ihm das nasse Tuch über Gesicht und Brust. »Ja, genau so. Flach.« Und ehe er protestieren oder ihren Plan durchkreuzen konnte, indem er sich bewegte, packte sie ihn an den Beinen und zog.
Musste er denn so groß und schwer sein? Ihre Gedanken versanken in Watte. Um sie herum tosten die Flammen, und sie glaubte, brennendes Haar zu riechen. Nun, Martin war auch groß und kräftig … Und dann dachte sie gar nichts mehr. Ihr Körper bewegte sich automatisch, gesteuert einzig von dem Urbedürfnis, diesen Mann aus der Gefahrenzone zu ziehen.
Plötzlich waren da starke Hände, die ihr ihre Last abnehmen wollten. »Da ist sie!« Lenobia wehrte sich. Diesmal wird der Tod nicht gewinnen! Nicht diesmal!
»Professor Lenobia, alles ist gut. Sie haben’s geschafft.« Da wurde ihr bewusst, dass die Luft um sie herum kühler war, und endlich gelang es ihrem Gehirn, Sinn in das Geschehen zu bringen. Während sie keuchend die frische Luft einsog und Hitze und Rauch aushustete, halfen sanfte Hände ihr, sich hinzulegen, und ihr wurde eine Maske über Nase und Mund gestreift, durch die noch süßere Luft in ihre Lungen drang.
Mit dem Sauerstoff klärte sich ihr Denken wieder. Auf dem Gelände waren unzählige menschliche Feuerwehrleute. Auf den brennenden Stall waren mehrere starke Wasserschläuche gerichtet. Über ihr ragten zwei Sanitäter auf, die verwirrt und ratlos zusahen, wie schnell sie sich erholte.
Sie riss sich die Maske vom Gesicht. »Nicht mir. Ihm!« Sie zog das Tuch von Travis’ viel zu reglosem Körper. »Er ist ein Mensch, helfen Sie ihm!«
»Ja, Ma’am«, stotterte der eine, und sie wandten sich Travis zu.
»Trinken Sie das, Lenobia.« Ihr wurde ein Kelch in die Hand gedrückt, und als Lenobia aufsah, knieten die beiden Vampyrheilerinnern aus der Krankenstation, Margareta und Sapphire, neben ihr. In einem einzigen Zug trank Lenobia den Wein aus, der stark mit Blut versetzt war, und spürte die darin enthaltene Lebensenergie sofort im ganzen Körper kribbeln.
»Sie sollten mit uns kommen, Professor«, sagte Margareta. »Sie werden noch mehr davon brauchen, um wieder ganz fit zu werden.«
Lenobia ließ den Kelch fallen. »Später.« Ohne die Heilerinnen, die jaulenden Sirenen, das Stimmengewirr und überhaupt das Chaos um sich herum zu beachten, kroch sie zu Travis. Die Sanis waren nicht untätig gewesen. Der Cowboy trug nun auch eine Sauerstoffmaske, und gerade wurde ihm eine Infusion gelegt. Seine Augen waren geschlossen. Unter dem Ruß sah sie, dass sein Gesicht rot und verbrannt war. Das T-Shirt, das er sich offenbar hastig übergeworfen hatte, hing über der Hose, und an seinen Armen bildeten sich schon Brandblasen. Aber erst seine Hände – seine Hände waren so verbrannt, dass sie bluteten.
Sie musste ihrer inneren Pein über diese Entdeckung durch einen Laut Luft
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