Verloren: House of Night 10 (German Edition)
vor zweihundert Jahren das Herz gebrochen hatten, und es war, als wäre die Wunde wieder frisch und blutete.
»Zu spät, chérie. Zu spät für uns in dieser Welt. Aber ich werde dich wiedersehen. Ich verspreche es dir. Meine Liebe bleibt. Meine Liebe für dich, sie wird niemals enden … Ich finde dich wieder, chérie. Ich schwöre.«
Und er packte den bösen Menschenmann, der versucht hatte, sie in seine Gewalt zu bringen, und schleppte ihn zurück in den brennenden Stall – womit er ihr ein zweites Mal das Leben rettete. Völlig verkrampft und laut schluchzend gelang es Lenobia endlich zu erwachen. Sie setzte sich auf und schob sich mit zitternder Hand das schweißnasse Haar aus dem Gesicht.
Ihr erster Gedanke galt ihrer Stute. Durch ihre telepathische Verbindung zu ihr spürte sie, dass Mujaji erregt, ja der Panik nahe war. »Schhh, meine Schöne. Schlaf wieder ein. Mir geht es gut«, sagte sie laut und vermittelte der schwarzen Stute Ruhe und Sicherheit. Es tat ihr leid, Mujaji beunruhigt zu haben.
Mit gesenktem Kopf drehte sie den Smaragdring wieder und wieder um den Ringfinger. »Sei nicht so närrisch«, redete sie sich fest zu. »Es war nur ein Traum. Alles ist gut. Ich bin nicht mehr dort. Was damals passiert ist, kann mir nicht noch mehr Leid zufügen, als es schon getan hat.« Aber das war eine Selbsttäuschung. Es gibt noch mehr Leid als das. Falls Martin zurückgekommen ist – wirklich zurückgekommen ist –, dann kann mein Herz noch einmal brechen. Wieder wollte sich ihr ein Schluchzen entringen, aber sie presste die Lippen fest aufeinander und zwang ihre Gefühle nieder.
Vielleicht ist er ja gar nicht Martin, sagte sie sich rational. Travis Foster, der Mensch, den Neferet angestellt hatte, damit er ihr in den Ställen half, war bestimmt nur eine nette Ablenkung – er und seine riesige, wunderschöne Percheronstute. »Genau das hatte Neferet wohl im Sinn, als sie ihn angestellt hat«, brummte sie. »Mich abzulenken. Und sein Percheron ist nichts als ein kurioser Zufall.«
Sie schloss die Augen, unterdrückte die lange vergangenen Erinnerungen, die in ihr aufstiegen, und wiederholte laut: »Travis ist wahrscheinlich nicht der wiedergeborene Martin. Ich weiß, ich reagiere ungewöhnlich stark auf ihn, aber es ist lange her, dass ich einen Geliebten hatte.« Und du hattest nie einen menschlichen Geliebten – das hattest du versprochen, mahnte ihr Gewissen sie. »Es ist wohl an der Zeit, dass ich mir wieder einmal einen Vampyr-Geliebten nehme, und sei es auch nur kurzfristig. Diese Art Ablenkung ist definitiv gut für mich.« Sie versuchte, sich damit zu beschäftigen, eine Liste gutaussehender Söhne des Erebos zu erstellen – und sofort wieder zu verwerfen. Vor ihrem inneren Auge standen nicht ihre kräftigen, muskulösen Körper, sondern whiskybraune Augen mit einem Hauch des vertrauten Olivgrüns, die immer zu einem Lächeln bereit waren …
»Nein!« Sie würde nicht daran denken. Nicht an ihn denken.
Aber wenn in Travis vielleicht doch Martins Seele steckt?, flüsterte Lenobias irrender Geist ihr verführerisch zu. Er hat mir sein Wort gegeben, dass er mich wiederfinden würde. Vielleicht hat er das ja jetzt getan. »Und was dann?« Sie stand auf und ging rastlos im Zimmer umher. »Ich weiß viel zu gut, wie zerbrechlich die Menschen sind. Sie sterben viel zu leicht, und heute ist die Welt sogar noch gefährlicher als 1788. Einmal schon hat die Liebe für mich mit Flammen und einem gebrochenen Herzen geendet. Einmal ist genug.« Sie blieb stehen und verbarg das Gesicht in den Händen. Tief in ihr drin wusste sie die Wahrheit, und ihr Herz pumpte diese Erkenntnis mit jedem seiner Schläge in ihren Körper und ihren Geist, wurde real. »Ich bin feige. Wenn Travis nicht Martin ist, wage ich es nicht, mich ihm zu öffnen, weil ich nicht das Risiko eingehen will, noch einmal einen Menschen zu lieben. Und wenn er wirklich Martin ist, kann ich es nicht ertragen, dass ich ihn unweigerlich noch einmal verlieren werde.«
Schwer ließ sie sich in den alten Schaukelstuhl neben ihrem Schlafzimmerfenster fallen. Hier las sie gern, und wenn sie nicht einschlafen konnte, blickte sie durch das ostwärts gerichtete Fenster hinaus auf die Wiese neben den Ställen und beobachtete den Sonnenaufgang. Obwohl ihr die Ironie nicht entging, freute sie sich stets auf das Morgenlicht. Vampyr oder nicht – tief drinnen würde sie immer ein kleines Mädchen bleiben, das Sonnenaufgänge, Pferde und einen
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