Verloren unter 100 Freunden
einem Leben, das aus E-Mails und Kurznachrichten besteht, kann man diese Leute fast auf Bestellung erscheinen lassen. Man nimmt sich, was man braucht, und geht weiter. Und wenn man noch nicht zufrieden ist, probiert man es bei jemand anderem.
Noch einmal: Die Technologie an sich verursacht nicht diese neue Art der Beziehung zu unseren Emotionen und anderen Menschen. Aber sie macht sie uns leicht. Mit der Zeit wird eine neue Umgangsweise
miteinander gesellschaftlich sanktioniert. In jeder Epoche werden bestimmte Arten der zwischenmenschlichen Beziehung als ganz natürlich empfunden. Wenn wir heutzutage ständig in Verbindung sein können, ständig in Verbindung sein müssen, so erscheint uns das nicht als Problem oder Krankheitsbild, sondern lediglich als Anpassung an das, was die Technologie leisten kann. Es wird zur Norm.
Was wir unter einer psychischen Krankheit verstehen, wandelt sich im Lauf der Zeiten. Wenn gewisse Verhaltensweisen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zerstörerisch erscheinen, werden sie als pathologisch abgestempelt. Im neunzehnten Jahrhundert beispielsweise galt sexuelle Unterdrückung als etwas Gutes und Moralisches, aber als dann die Frauen ihre Empfindsamkeit oder die Fähigkeit zu sprechen verloren, sah man diese beunruhigenden Symptome als Krankheit, als Hysterie an. Mit zunehmender sexueller Freiheit gingen diese Symptome zurück, und andere traten an ihre Stelle. So zeugten die allzu gern verschriebenen Tranquilizer der Fünfzigerjahre von den neuen Ängsten der Frauen infolge ihrer Zurückdrängung in den häuslichen Bereich nach der umfassenden Teilhabe an öffentlichen Aufgaben während des Zweiten Weltkriegs.
Jetzt haben wir Krankheitssymptome aus Angst vor dem Alleinsein und Verlassenwerden. Bei meinen Studien über das Heranwachsen in einer vernetzten Kultur lerne ich viele Kinder und Teenager kennen, die sich vernachlässigt fühlen. Manche von ihnen haben wohlmeinende Eltern, die in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten und wenig Zeit für ihre Kinder haben. Manche der Kinder haben eine Scheidung miterlebt – manchmal sogar mehr als eine – und stolpern von einem Elternteil zum anderen, ohne richtig zu wissen, wo sie eigentlich hingehören. Jene glücklichen Kinder, die intakte Familien mit stabilen Einkünften haben, können andere Formen
des Alleingelassenwerdens erleben. Beruflich stark eingespannte Eltern sind häufig mit dem beschäftigt, was sich auf ihren Smartphones abspielt. Wenn die Kinder nach Hause kommen, dann oft in ein Haus, das leer ist, bis Mutter oder Vater von der Arbeit kommen.
In all diesen Situationen bieten Computer und Mobilgeräte jungen Leuten Gemeinschaft an, während ihre Eltern nicht da sind. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, beunruhigende Muster von Verbundenheit und Entfremdung vorzufinden: Teenager, die sich nur online »unterhalten« wollen, die persönlichen Gesprächen konsequent aus dem Weg gehen, die fünfzehn oder zwanzig Mal am Tag mit ihren Eltern Textnachrichten austauschen, die sogar einen Telefonanruf für »zu direkt« halten und sagen, sie wollen »lieber tippen als reden«. Aber sollen wir sie deshalb für psychisch krank halten? Denn wenn sich der gesellschaftliche Sittenkodex wandelt, kann das, was einmal als »krank« galt, irgendwann als normal empfunden werden. Wenn mir als klinischer Psychologin vor zwanzig Jahren eine College-Studentin begegnet wäre, die ihre Mutter fünfzehn Mal am Tag angerufen hätte, um sie zu fragen, welche Schuhe sie kaufen und welches Kleid sie anziehen solle, um ihr einen neuen entkoffeinierten Tee zu empfehlen und sich über die Schwierigkeit einer Physikaufgabe zu beklagen, dann hätte ich ihr Verhalten für fragwürdig gehalten. Ich hätte ihr empfohlen, über ihre Schwierigkeiten mit dem Getrenntsein nachzudenken. Ich hätte angenommen, dass diese Schwierigkeiten zur Sprache gebracht werden müssten, damit sie erfolgreich den Weg ins Erwachsenenleben fände. Aber heutzutage ist eine College-Studentin, die fünfzehn Mal am Tag eine SMS nach Hause schickt, nichts Ungewöhnliches mehr.
Highschool-Schüler und College-Studenten tippen unentwegt – wenn sie in der Cafeteria Schlange stehen, beim Essen, während sie auf den Bus warten. Dass sich viele dieser Nachrichten an die Eltern
richten, ist nicht überraschend. Was wir früher als Problem angesehen haben, wird zur üblichen Vorgehensweise. Aber ein Verhalten, das sich eingebürgert hat, kann immer noch die
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