Verloren unter 100 Freunden
dieser Grundlage akzeptiert. Andere freunden sich nur mit Leuten an, die sie kennen. Wieder andere freunden sich mit jedem Freund eines Freundes an und benutzen Facebook so als Werkzeug zur Erweiterung ihres Bekanntenkreises. All das kann spannend oder auch anstrengend sein – häufig ist es beides zugleich, denn es hat Konsequenzen, sich Freunde anzuschaffen. Es bedeutet, dass die anderen sehen können, was man in seinem Profil über sich selbst sagt. Sie können die
Fotos anschauen, die man einstellt, und die Nachrichten anderer Freunde an der »Pinnwand«, dem gemeinsamen Kommunikationsraum für einen selbst und seine Freunde. Sich mit jemandem anzufreunden gibt diesem Menschen ausdrücklich die Erlaubnis, es auch bei den eigenen Freunden zu versuchen. Genau genommen fordert ihn das System sogar ständig dazu auf.
Am Anfang dieses Projekts saß ich einmal bei einem Arbeitsessen neben einer Autorin, deren Verleger darauf bestand, dass sie Facebook benutzte, um für ihr neues Buch zu werben. Die Idee war, den Leuten auf der Seite zu sagen, wo sie Lesungen abhalten würde und einer ständig zunehmenden Leserschaft die Themen ihres Buches nahezubringen. Ihr Verleger hoffte, diese Strategie werde das Buch »wie einen Virus« verbreiten. Sie hatte erwartet, die Facebook-Mitgliedschaft lediglich als professionelle Aufgabe zu empfinden, stattdessen beschrieb sie ihre komplizierten Ängste, nicht genug Freunde zu finden, und den Neid auf ihren Ehemann, auch Schriftsteller, der mehr Freunde hatte als sie. Außerdem kam es ihr falsch vor, das Wort »Freund« für alle zu verwenden, die sie auf Facebook kennen lernte, weil so viele von ihnen aus rein beruflichen Gründen dort waren. Zum Abschluss unseres Gesprächs sagte sie: »Die Sache hat mich glatt wieder in die Highschoolzeit zurückversetzt.«
Ich versprach ihr, falls ich einmal bei Facebook landen würde, meine ersten Empfindungen aufzuschreiben, solange die Seite noch neu für mich wäre. Inzwischen erscheinen mir meine allerersten Gefühle banal: Ich musste mich entscheiden zwischen »Freunde finden Plan A« (hier kommen nur Leute rein, die ich schon kenne) und »Freunde finden Plan B« (ich werde auch Leute in die Liste aufnehmen, die sich an mich wenden, weil sie meine Arbeit schätzen). Ich versuchte es ein paar Wochen lang mit Plan A und schaltete dann, geschmeichelt von der Aufmerksamkeit Fremder, auf
den umfassenderen Plan B um, wobei ich meine Entscheidung beruflich rechtfertigte.
Aber würde ich mich jetzt, wo ich Fremde in mein Leben eingeladen hatte, auch selbst in das Leben anderer einmischen? Ich hätte vorausgesagt: Nein, bis ich genau das tat. Ich sah, dass einer meiner Lieblingsautoren ein Facebook-Freund eines Freundes war. Von der Vorstellung beflügelt, mit diesem Autor befreundet zu sein, startete ich eine Anfrage, und er ging darauf ein. Das Bild einer Cafeteria kam mir in den Sinn, und ich hatte einen Platz an seinem virtuellen Tisch. Aber ich kam mir vor wie ein ungebetener Gast. Realistischerweise kam ich zu dem Schluss, dass ich die Sache zu ernst nahm. Facebook ist eine Welt, in der Fans »Freunde« sind. Aber es sind natürlich keine echten Freunde. Sie sind lediglich zu Freunden erklärt worden. Das ist ein himmelweiter Unterschied, und mir ging die Highschool nicht mehr aus dem Kopf.
Die Angst vor der Selbstdarstellung
Welchen Wahrheitsanspruch stellt ein Facebook-Profil? Wie sehr darf man lügen? Und was riskiert man, wenn man es tut? Nancy, eine achtzehnjährige Oberstufenschülerin auf der Roosevelt-Highschool, beantwortet diese Frage so: »Einerseits ist der Wahrheitsanspruch gering, weil eigentlich niemand die Angaben überprüft.« Dann verzieht sie das Gesicht und sagt: »Nein, andererseits ist der Anspruch hoch. Alle anderen schauen, ob du die Wahrheit sagst.« Ein paar Minuten später kommt Nancy noch einmal auf die Frage zurück: »Nur meine besten Freunde merken, wenn ich ein bisschen flunkere, und sie verstehen das völlig.« Dann lacht sie. »Alles in allem ist es, glaube ich, ein bisschen stressig.« 11
An der Cranston-Schule beschreibt eine Gruppe älterer Schüler
diesen Stress. Einer sagt: »Dreizehn bis achtzehn ist das Alter, wo man Profile schreibt.« Die Jahre des Identitätsaufbaus werden zu einer Zeit, in der man Profile von sich selbst produziert. Diese Cranston-Schüler mussten ein Profil für ihre Anmeldung an der Mittelschule verfassen, eines, um an die Highschool zu gelangen, und dann noch ein weiteres
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