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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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Probleme widerspiegeln, die uns zu früheren Zeiten veranlasst haben, es als pathologisch zu empfinden. Selbst ein allgemein übliches Verhalten liegt nicht immer im Interesse der Entwicklung eines Heranwachsenden.
    Betrachten wir einmal Leo, einen College-Studenten im zweiten Jahr, weit fort von zu Hause, der sich furchtbar allein fühlt. Er erzählt mir, er »löse« das Problem, indem er seine Mutter bis zu zwanzig Mal am Tag anrufe. Er betont, dass er da keine Ausnahme sei; alle, die er kennt, hängen den ganzen Tag am Telefon. Aber auch wenn man es ihm nicht ansieht, empfindet er sein Verhalten doch als krankhaft.
    Dieser Tage entwickelt sich unser Verständnis von psychologischer Autonomie weiter. Ich sagte, der zentrale Gedanke Erik Eriksons über Jugendliche ist der, dass sie ein Moratorium brauchen, eine »Auszeit«, einen relativ folgenfreien Zeitraum zum Experimentieren. Aber nach Eriksons Vorstellung ist das Ich, wenn es erst einmal voll entwickelt ist, relativ stabil. Auch eingebettet in Beziehungen ist es letzten Endes abgegrenzt und autonom. 8 Einer von Eriksons Schülern, der Psychiater Robert Jay Lifton, hat eine alternative Vorstellung vom reifen Ich. Er nennt es proteisch und unterstreicht dessen vielfältige Aspekte. 9 Das Ich als proteisch aufzufassen, akzentuiert Verbundenheit und Neuerfindung. Dieses, wie Lifton es ausdrückt, »fließende und vielseitige« Ich kann Ideen und Ideologien umfassen und modifizieren. In einer Vielfalt fremdartiger Dinge blüht es auf.
    In der Öffentlichkeit zollte Erikson Liftons Arbeit Anerkennung, doch nach Eriksons Tod im Jahre 1994 fragte Lifton Eriksons Angehörige, ob er die Bücher haben könne, die er seinem Lehrer geschenkt und persönlich gewidmet hatte. Die Familie hatte nichts
dagegen, und die Bücher wurden zurückgegeben. In seinem persönlichen Exemplar von Liftons The Protean Self (Das proteische Selbst) hatte Erikson sich ausgiebig Anmerkungen gemacht. Als er zu dem Begriff »proteischer Mensch« kam, hatte Erikson »proteischer Knabe?« an den Rand gekritzelt. 10 Für ihn war inakzeptabel, dass ein erfolgreiches Erwachsenwerden nicht in etwas Solidem resultieren sollte. Nach Eriksons Richtlinien ist ein Ich, das in der Kakophonie von Internet-Räumen geformt wurde, nicht proteisch, sondern juvenil. Nun behaupte ich, dass die Kultur, in der diese Ichs sich entwickeln, sie zu einer narzisstischen Beziehung zur Welt verleitet.
    Mein Avatar und ich
    Erikson sagt, dass das Spiel mit der Identität die Aufgabe der Jugendzeit ist. Und heutzutage nutzen die Heranwachsenden das umfangreiche Material des Online-Lebens, um diese Aufgabe zu erledigen. Zum Beispiel bei einem Spiel wie The Sims Online (stellen Sie sich darunter so etwas vor wie eine sehr frühe Version von Second Life): Dort kann man einen Avatar erschaffen, der Vorstellungen von einem selbst wiedergibt, ein Haus bauen und es nach seinem Geschmack einrichten. So ausgestattet kann man sich daranmachen, jene Dinge des Lebens virtuell zu überarbeiten, die vielleicht in der Realität nicht so gut gelaufen sind.
    Trish, eine schüchterne und ängstliche Dreizehnjährige, ist von ihrem alkoholabhängigen Vater brutal geschlagen worden. In The Sims Online erschafft sie eine Familie, in der Missbrauch betrieben wird, aber in dem Spiel ist ihre ebenfalls dreizehnjährige Figur körperlich und seelisch stark. In der Simulation spielt sie immer wieder durch, wie sie ihren Angreifer abwehrt. Ein sexuell überaus erfahrenes
sechzehnjähriges Mädchen, Katherine, denkt sich als Avatar eine naive Jungfrau aus. »Ich möchte eine Ruhepause haben«, sagt sie. Darüber hinaus, erzählt sie mir, kann sie »üben, ein anderer Mensch zu werden. Das ist Sims für mich. Übung.«
    Katherine »übt« mit dem Spiel beim Frühstück, in den Schulpausen und nach dem Essen. Sie sagt, ihr virtuelles Leben tröste sie. Ich frage sie, ob ihre Aktionen in dem Spiel irgendwelche Veränderungen in ihrem Leben herbeigeführt haben. Sie erwidert: »Eigentlich nicht«, aber dann schildert sie, wie sich ihr Leben tatsächlich zu verändern beginnt. »Ich denke darüber nach, mit meinem Freund Schluss zu machen. Ich will keinen Sex mehr, aber ich hätte schon gern einen Freund. Meine Figur auf Sims hat mehrere Freunde, aber keinen Sex. Sie [die Freunde ihres Sims-Avatars] helfen ihr bei der Arbeit. Ich glaube, um neu anzufangen, müsste ich mit meinem Freund Schluss machen.« Katherine identifiziert sich nicht völlig mit ihrer

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