Verloren unter 100 Freunden
Fillmore School, einer Privatschule für Jungen in New York City, erregt das Thema Eltern und Handy starke Emotionen. Die jungen Männer überlegen: »Wenn man jederzeit erreichbar sein muss, wann hat man dann eigentlich das Recht, allein zu sein?«
Manche der Jungen reagieren trotzig. Für einen von ihnen »sollte es meine Entscheidung sein, ob ich ans Telefon gehe. Die Leute können mich ja anrufen, aber ich muss doch nicht unbedingt mit ihnen reden.« Ein anderer: »Damit meine Eltern mich in Ruhe lassen, nehme ich mein Handy gar nicht erst mit. Dann erreichen sie
mich nicht. Meine Mutter sagt immer, ich soll mein Handy mitnehmen, aber ich tu’s einfach nicht.« Manche berufen sich auf die Vergangenheit, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Harlan, ein ausgezeichneter Schüler und Sportler, findet, er habe es sich verdient, mehr Freiheit zu bekommen. Er erzählt von seinen älteren Geschwistern, die vor der Erfindung des Handys aufgewachsen sind und größere Freiheit genossen: »Meine Mutter lässt mich immer das Handy mitnehmen, aber ich gehe nie dran, wenn meine Eltern anrufen, und dann spielen sie verrückt. Ich finde, ich bin nicht dazu verpflichtet. Handys sind etwas Neues. In den letzten zehn Jahren hat jeder eins bekommen. Vorher konnte man nicht einfach jederzeit jemanden anrufen. Ich sehe gar nicht ein, dass ich rangehen muss, wenn meine Mutter anruft. Meine ältere Schwester musste das ja auch nicht.« Harlans Mutter, unbeeindruckt von seinen Argumenten, achtet jeden Morgen darauf, dass er sein Handy zur Schule mitnimmt. Harlan aber meldet sich nicht, wenn sie anruft. Das bringt sie beide in eine unschöne Sackgasse.
Etliche Jungen erklären, es sei ein Fehler gewesen, ihren Eltern beizubringen, wie man Instant Messages (IMs) schreibt und verschickt. Das sei, als habe man den Geist aus der Flasche gelassen. Einer sagt: »Ich hab neulich den Fehler gemacht, meinen Eltern zu zeigen, wie man chattet, und wenn ich sie jetzt nicht anrufe, wenn sie mich dazu auffordern, kriege ich eine dringende Message.« Ein anderer: »Ich hab meinen Eltern beigebracht, IMs zu schreiben. Sie wussten nicht, wie das geht. Das war das Blödeste, was ich machen konnte. Jetzt schicken sie mir dauernd IMs. Es ist wirklich zum Verrücktwerden. Meine Eltern bringen mich auf die Palme. Ich habe das Gefühl, ich sitze in der Falle und bin weniger unabhängig.«
Teenager argumentieren, man müsse ihnen Zeiten zugestehen, während derer sie nicht »auf Abruf« sind. Eltern sagen, sie fühlten sich auch in der Falle. Denn wenn man weiß, dass sein Kind ein
Handy bei sich hat, ist es beängstigend, anzurufen oder eine SMS zu schicken und keine Antwort zu bekommen. »Ich habe nicht um diese neue Sorge gebeten«, sagt die Mutter zweier Highschool-Mädchen. Eine andere, Mutter von drei Teenagern: »Ich versuche, sie nicht anzurufen, wenn es unwichtig ist.« Aber wenn sie anruft und keine Antwort bekommt, verfällt sie in Panik:
»Ich habe ihnen eine SMS geschickt. Nichts. Und ich weiß doch, dass sie ihre Handys dabeihaben. Mein Kopf sagt mir, es gibt kaum Grund zur Besorgnis. Aber da ist immer noch diese unbeantwortete SMS. Manchmal macht mich das richtig verrückt. Einmal habe ich ihnen eine Nachricht nach der anderen geschickt. Ich beneide meine Mutter. Wir gingen morgens zur Schule. Wir kamen wieder nach Hause. Sie war arbeiten. Sie kam, sagen wir mal, um sechs nach Hause. Sie machte sich keine Sorgen. Am Ende flehe ich meine Kinder an, jede meiner Nachrichten zu beantworten. Nicht, weil sie verpflichtet sind, mir sofort zu antworten. Sondern einfach aus Mitgefühl.«
Die Autonomie Heranwachsender hat nicht nur mit der Loslösung von ihren Eltern zu tun. Sie müssen auch lernen, sich voneinander zu lösen. Sie erleben ihre Freundschaften gleichzeitig als Unterstützung und Einengung. Die Vernetztheit bringt Komplikationen mit sich. Das Online-Leben bietet eine Menge Raum für individuelle Experimente, aber es kann schwierig sein, sich den neuen Gruppenerwartungen wieder zu entziehen. Unter Freunden ist es üblich zu erwarten, dass sie erreichbar sind – ein durch die Technologie ermöglichter Sozialvertrag verlangt ständige gegenseitige Verfügbarkeit. Und das vernetzte Ich gewöhnt sich an diesen Zustand.
Nach traditioneller Auffassung von der Entwicklung Heranwachsender gelten Autonomie und starke persönliche Abgrenzung
als zuverlässige Anzeichen eines erfolgreich reifenden Ichs. Nach dieser Sichtweise arbeiten wir an einer
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