Verloren unter 100 Freunden
unabhängigen Persönlichkeit, die fähig ist, ein Gefühl zu haben, es zu betrachten und zu entscheiden, ob man andere daran teilhaben lassen möchte. Andere an seinen Gefühlen teilhaben zu lassen ist eine freiwillige Handlung, eine Bewegung hin zur Nähe. Diese Beschreibung war immer in mehrfacher Hinsicht eine Fiktion. Zum einen ging der »Goldstandard« der Autonomie von Verhaltensmustern aus, die kulturell als »männlich« gelten. Frauen (und in Wirklichkeit auch viele Männer) haben eine Art, mit Gefühlen umzugehen, die sich nicht in Abgrenzung definiert, sondern in Beziehungen. 1 Außerdem sind die Gespräche Heranwachsender von Natur aus exploratorisch, und das auf gesunde Weise. So wie manche Schriftsteller dahinterkommen, wie sie denken, indem sie sich ansehen, was sie schreiben, können die Jahre der Identitätsbildung eine Zeit sein, in der man herausfindet, was man denkt, indem man darauf hört, was man zu anderen sagt. Dennoch hat die Vorstellung eines abgegrenzten Ichs auch ihr Gutes, wenn auch nur als Metapher. Sie fordert uns auf, erst ein Gespür dafür zu entwickeln, wer wir sind, ehe wir ernsthafte Partnerbeziehungen eingehen. 2
Doch der »Goldstandard« verliert seinen Glanz, wenn man immer ein Mobiltelefon in der Hand hat. Man berührt ein Display und erreicht jemanden, von dem man annimmt, dass er auch bereit ist zu antworten, jemanden, der ebenfalls ein Mobiltelefon in der Hand hat. Die Technologie macht es einem leicht, Gefühle schon im Augenblick ihres Entstehens auszudrücken. Sie begünstigt eine Verhaltensweise, bei der Gefühle noch nicht völlig ausgereift sind, bis man sie äußert. Anders ausgedrückt, man kann einen Gedanken entwickeln, indem man ihn verschickt und auf Kommentare wartet.
Das Ich als Gemeinschaftsarbeit
Julia, sechzehn, im zweiten Jahr Schülerin an der staatlichen Branscomb-Highschool in New Jersey, verwandelt das Nachrichtenschreiben in eine Art Abstimmung. Julia hat lächelnde, stets wache Augen und eine lebhafte und warme Ausstrahlung. Wenn ein Gefühl in ihr hochsprudelt, verfasst sie eine Nachricht. Wie es dann weitergeht, richtet sich danach, was sie als Nächstes hört. Julia sagt:
»Wenn ich mich ärgere, schicke ich sofort eine Message an ein paar Freunde … einfach weil ich weiß, dass sie da sind und mich trösten werden. Wenn etwas Aufregendes passiert, weiß ich, dass sie da sind und meine Aufregung mit mir teilen und so. Ich habe also definitiv Gefühle, wenn ich Nachrichten schreibe, während ich sie schreibe … Und wenn ich das Gefühl habe, dass ich gleich anfange zu heulen, na ja, dann hole ich mir meine Freunde hoch … äh, hole mein Handy raus … und sag also … ich erzähl ihnen, was ich empfinde und so, ich müsse mit ihnen reden oder sie sehen.«
»Ich hole mir meine Freunde hoch … äh, hole mein Handy raus.« Ein vielsagender Versprecher. Wenn Julia über starke Gefühle redet, gehen ihre Gedanken gleichermaßen zu ihrem Handy wie zu ihren Freunden. Sie vermischt den Vorgang, den Namen eines Freundes auf ihrem Display »hochzuholen« damit, ihr Handy »herauszuholen«, aber sie korrigiert sich nicht einmal soweit, dass sie einbezieht, dass das Handy selbst ihr Freund ist und ihre Freunde durch ihr Handy Identitäten annehmen.
Nachdem Julia eine Nachricht verschickt hat, fühlt sie sich so lange unwohl, bis sie eine Antwort erhält. »Ich suche dann immer nach einer Nachricht wie ›Ach, das tut mir leid‹ oder ›Oh, ist ja super‹.
Ohne dieses Feedback«, sagt sie, »kann ich mich nur schwer wieder beruhigen.« Julia schildert, wie schmerzhaft es ist, über Gefühle zu schreiben und keine Antwort zu bekommen: »Da werd ich ganz verrückt. Selbst wenn ich einer Freundin eine E-Mail schreibe, will ich sofort eine Antwort. 3 Ich will, dass sie für mich da ist und antwortet. Und manchmal, also, da denk ich: ›He! Warum kannst du nicht einfach antworten?‹ … Ich warte, also, je nachdem, was es ist, ich warte eine Stunde, wenn sie nicht antwortet, und dann maile ich sie nochmal an. ›Spinnst du? Bist du da? Alles okay?‹« Ihre Nervosität ist offensichtlich. Julia muss eine Antwort haben. Von denjenigen, an die sie Mails schickt, sagt sie: »Man will, dass sie da sind, weil man sie braucht.« Wenn jemand nicht für sie da ist, sucht sie sich kurzerhand jemand anderen, den sie an ihren Gefühlen teilhaben lassen kann: »Dann nehme ich eine andere Freundin und erzähle es eben ihr.«
Claudia, siebzehn, in der elften
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