Verloren unter 100 Freunden
Klasse an der Cranston-Schule, beschreibt einen ähnlichen Ablauf. »Sobald ich anfange, Leuten zu schreiben, geht es mir irgendwie gut.« Wie bei Julia entwickeln sich die Dinge vom »Ich hab das Gefühl, ich will mit jemandem reden« zum »Ich möchte das Gefühl haben, mit jemandem reden zu müssen« oder in ihrem Fall, dazu, jemandem eine Mail zu schicken. Was hier nicht kultiviert wird, ist die Fähigkeit, für sich allein über seine Gefühle nachzudenken. Im Gegenteil: Teenager geben an, sich ohne ihr Handy unwohl zu fühlen. 4 Sie müssen vernetzt sein, um sich wie sie selbst zu fühlen. Oder positiver ausgedrückt: Sowohl Claudia als auch Julia lassen andere an ihren Gefühlen teilhaben, um sich über ihre Empfindungen richtig klar zu werden. Sie pflegen ein kollaboratives Ich.
Durch die Entfremdung von ihrem Vater hat Julia ihre engen Bindungen zu seinen Verwandten verloren, und sie ist traumatisiert, seit sie während der Angriffe auf die Twin Towers am 11. September
2001 den ganzen Tag über ihre Mutter nicht erreichen konnte. Ihre Geschichte veranschaulicht, wie die digitale Vernetztheit – besonders über Textnachrichten – dazu benutzt werden kann, mit Ängsten vor Verlust und Trennung umzugehen. Aber was Julia tut – ihr ständiges Chatten und Mailen, ihre Angewohnheit, Gefühle nur dann zu empfinden, wenn sie andere daran teilhaben lässt –, ist nicht ungewöhnlich. Die Besonderheiten jedes individuellen Falles drücken die persönliche Geschichte des Betreffenden aus, aber Julias individuelles »Symptom« ist nahezu typisch für ihre Generation. 5
Der Soziologe David Riesman verwies Mitte der Fünfzigerjahre auf die amerikanische Wende vom innengeleiteten zum außengeleiteten Ich. 6 Wenn die Leute keine klaren Zielvorstellungen hatten, schielten sie zur Orientierung auf ihre Nachbarn. Heute, mit dem Mobiltelefon in der Hand, hat das Außengeleitet-Sein eine neue Dimension angenommen. Bereits im Augenblick des Entstehens eines Gefühls oder Gedankens können wir eine Bestätigung abfragen, ja fast eine Vorbestätigung. Der Austausch mag kurz sein, aber mehr wird meistens nicht erwartet. Notwendig ist nur, dass jemand da ist.
Ricki, fünfzehn, Elftklässlerin an der privaten Richelieu-Highschool für Mädchen in New York City, beschreibt diese Notwendigkeit so: »Ich hab eine Menge Leute auf meiner Kontaktliste. Wenn einer meiner Freunde es nicht mitkriegt, wende ich mich an jemand anderen.« Das markiert den Übergang zur Hyperaußengeleitetheit. Die Kontakt- oder Freundesliste dieser jungen Frau ist zu einer Art Liste von »Ersatzteilen« für ihr schwaches pubertäres Ich geworden. Wenn sie den Ausdruck »mitkriegt« verwendet, meint sie, glaube ich, »ans Telefon gehen«. Ich frage zurück, ob ich das richtig verstanden habe. Sie sagt: »Mitkriegen, ja, schon ›drangehen‹, aber auch › mich mitkriegen, mich verstehen‹.« Ricki zählt darauf,
dass ihre Freunde ihre Gedanken für sie fertigdenken. Die Technologie ist nicht die Ursache einer Empfindungsweise, bei der die Bestätigung eines Gefühls Teil seiner Etablierung und sogar Teil des Gefühls selbst wird, sondern begünstigt sie lediglich. Auch wenn sie nicht die Ursache dafür ist – die Technologie fördert eine Empfindungsweise, bei der die Bestätigung eines Gefühls zu dessen Stabilisierung beiträgt, ja sogar zu einem Teil des Gefühls selbst wird.
Ich habe gesagt, dass man in der psychoanalytischen Tradition von Narzissten nicht als Menschen spricht, die sich selbst lieben, sondern von Persönlichkeiten, die so unsicher sind, dass sie permanent Unterstützung brauchen. 7 Eine narzisstische Persönlichkeit kann die komplexen Forderungen anderer nicht tolerieren, sondern versucht mit ihnen Kontakt zu pflegen, indem sie verdreht, wer sie sind, und sich nimmt, was sie von ihnen braucht. Das narzisstische Ich gibt sich also nur mit einer auf seine eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen Darstellung der anderen ab. Diese Darstellungen (in manchen analytischen Traditionen als »Teilobjekte« bezeichnet) sind das Einzige, womit das labile Ich umgehen kann. Wir können uns leicht vorstellen, wie nützlich solche leblosen Gefährten für ein narzisstisches Ich sind, denn einen Roboter oder ein Computerwesen kann man auf seine persönlichen Bedürfnisse abstimmen. Aber ein unsicherer Mensch kann auch von ausgewählten und begrenzten Kontakten unterstützt werden (sagen wir mal, den Leuten auf einer Handy-»Favoriten«liste). In
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