Verloren unter 100 Freunden
Kapitel
Komplizenschaft
Cog habe ich zum ersten Mal im Juli 1994 in Rodney Brooks’ Labor für Künstliche Intelligenz am MIT gesehen. Das Institut veranstaltete eine Konferenz über Künstliches Leben, und die Teilnehmer waren voller Optimismus, dass die Wissenschaft nun kurz davor stünde, einen, wie Experten es nennen, »lebendigen Zustand« zu synthetisieren. Obwohl bereits atemberaubende Durchbrüche darin gelungen waren, die Merkmale lebender Systeme nachzuahmen, hatten die meisten der auf diesem Feld entwickelten »Lebensformen« keine körperliche Präsenz, die substantieller war als Darstellungen auf einem Computerbildschirm. Nicht so Cog, ein lebensgroßer menschlicher Torso mit beweglichen Armen, einem Hals und einem Kopf.
Cog entsprang der langen Forschungstradition in Brooks’ Labor. Er und seine Kollegen arbeiten auf Basis der Annahme, dass vieles von dem, was wir als komplexes Verhalten betrachten, aus einfachen Reaktionen auf eine komplexe Umgebung besteht. Betrachten wir zum Beispiel, wie der Pionier der Künstlichen Intelligenz, Herbert Simon, eine Ameise beschreibt, die über eine Sanddüne läuft: Die Ameise denkt nicht daran, von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Stattdessen folgt sie in ihrer Umgebung zwei einfachen Regeln: in Bewegung bleiben und Hindernissen ausweichen. Nachdem er mit dieser Strategie mehr als fünfzehn Jahre lang Roboter gebaut hatte, die nach Intelligenz auf Insektenniveau strebten, fühlte Brooks sich bereit, sich »den ganzen Leguan zu angeln«. 1 Anfang der Neunzigerjahre begannen er und sein Team, Cog zu bauen, einen
Roboter-Zweijährigen. Das Ziel bestand darin, Cog von seiner Umgebung »lernen« zu lassen, zu der auch die vielen Forscher gehörten, die sich seiner »Erziehung« widmeten. Für einige war Cog ein ehrenwertes Experiment über die Möglichkeiten einer körperlichen, sich fortentwickelnden Intelligenz. Für andere war er eine herrliche Fantasie. Ich beschloss, mir das Ganze mit eigenen Augen anzuschauen.
Zu der Konferenz ging ich mit Christopher Langton, einem der Begründer des Forschungsfeldes »Künstliches Leben« – tatsächlich war er es, der sich den Begriff ausgedacht hatte. Eingeflogen aus New Mexico, war Langton genauso neugierig auf den Roboter wie ich. Im KI-Labor waren unzählige Roboterteile in die Regale und Behälter gestopft, andere waren auf dem Boden verstreut. Inmitten des Durcheinanders stand Cog auf einem Sockel, reglos, beinahe herrschaftlich – ein humanoider Roboter, einer der ersten seiner Art, sein Gesicht rudimentär, aber mit durchdringendem Blick.
Darauf trainiert, den Bewegungen menschlicher Wesen zu folgen, »bemerkte« Cog mich, kurz nachdem ich den Raum betrat. Er drehte den Kopf, um mir nachzublicken, und es war mir richtig peinlich, als ich merkte, dass ich mich darüber freute – mich sogar übermäßig darüber freute. Genau genommen merkte ich, dass ich mit Langton um die Aufmerksamkeit des Roboters wetteiferte. An einem Punkt war ich mir sicher, dass Cogs Blick sich in meinen »geheftet« hatte, und ich verspürte ein Triumphgefühl. Der Roboter bemerkte mich , keinen seiner anderen Gäste. Der Besuch war eine echte Überraschung für mich – nicht so sehr wegen dem, was Cog zu leisten imstande war, sondern wegen meiner Reaktion auf ihn. Jahrelang hatte ich, wann immer ich Brooks über seine Roboter-»Geschöpfe« hatte sprechen hören, das Wort gedanklich immer in Anführungszeichen gesetzt. Aber nun hatte ich mit Cog ein Erlebnis, in dem die Anführungszeichen verschwanden. Da befand ich
mich also in der Gegenwart eines Roboters und wollte, dass er mich anderen Menschen vorzog. Meine Reaktion war ganz unfreiwillig, ich bin versucht zu sagen, sie kam aus dem Bauch heraus. Cog hatte ein Gesicht, er suchte meinen Blick und folgte meinen Bewegungen. Diese drei einfachen Elemente reichten aus, um mich gegen den Instinkt ankämpfen zu lassen, auf Cog als Person zu reagieren, obwohl ich wusste, dass »er« eine Maschine ist.
Mechanische Kleinkinder
Cogs Konstrukteure hatten ein körperlich agiles Kleinkind im Sinn, das auf alles reagiert, was es sieht, berührt und hört. In einem benachbarten Labor gibt es einen weiteren Roboter, der die Emotionen dieses Kleinkinds simulieren soll. Er heißt Kismet und kann sich stimmlich und mit Hilfe seiner Mimik ausdrücken. Kismet hat große Puppenaugen, lange Wimpern und rote Gummilippen. Er spricht mit leise brabbelnder Stimme, die die Modulation der menschlichen
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