Verloren
ein, das hört man heraus, wenn er von ihr spricht – vielleicht weil sie seine Liebe zur Malerei teilt. Oder vielleicht, weil sie in dem Jahr geboren wurde, in dem sein Vater starb.
Wie es ihm ergangen ist in den Jahren, in denen er bei seiner Großmutter gelebt hat, darüber kann ich nur spekulieren. Er erzählt zwar davon, aber immer nur kurz und oft im Zusammenhang mit Adriana. Über seine Frau, den Absturz oder den Unfall, der ihm diese furchtbare Narbe eingetragen hat, spricht er dagegen nie, das blockt er schon ab, wenn unser Gespräch auch nur in die Nähe davon zu kommen droht. Dabei wüsste ich gerne mehr über ihn.
Allerdings – das muss ich mir schuldbewusst eingestehen – rede ich mit ihm auch nicht wirklich über mein Leben in London. Er hat keine Ahnung, dass ich Sarah kenne, ich habe Nigel nicht mehr erwähnt, der mich nach wie vor jeden Tag anruft, und auch, dass meine Mum so krank ist, dass ich sie niemals verlassen könnte, weiß er nicht. Weil ich nicht gerne darüber nachdenke, dass er eigentlich kein Teil meines Lebens werden kann. Und das müsste ich, wenn ich ihm meinen Alltag schildere – in dem ich ihn einfach nicht sehen kann.
»Du kannst deine Sachen übrigens wiederhaben«, erkläre ich Adriana. Ich hatte das ganz vergessen, sonst hätte ich Matteo die Jeans und das Shirt schon längst wieder mitgebracht.
»Nein, nein, behalt sie nur – ich brauche sie nicht mehr, wirklich«, versichert mir Adriana, wahrscheinlich weil sie nicht Gefahr laufen will, die Designer-Sachen, die sie so toll findet, wieder abgeben zu müssen.
»Adriana!« Matteo tritt plötzlich auf den Balkon. Seine Haare sind noch nass von der Dusche und glänzen dunkler als sonst. Aber ansonsten ist er im Gegensatz zu mir fertig angezogen und sieht in der perfekt sitzenden Hose und dem hellen Hemd so gut aus, dass mein Herz – wie immer – kurz ins Stolpern gerät.
Er freut sich, seine Nichte zu sehen, nimmt sie fest in die Arme, doch ihr Besuch überrascht ihn auch. Außerdem geht sein Blick immer wieder zu mir, ganz so, als würde es ihn stören, dass ich so vertraut mit Adriana zusammensitze.
»Was tust du denn um diese Zeit schon hier?«, erkundigt er sich. »Ist heute keine Schule?«
Erst jetzt, wo er es sagt, realisiere ich, dass es stimmt – dort müsste Adriana an einem Freitagmorgen eigentlich sein. Aber sie hat eine Erklärung, die sie uns lächelnd mitteilt.
»Ich habe heute die ersten beiden Stunden frei, und ich dachte, ich nutze sie, um dich an das Geschenk zu erinnern.«
Eine Falte erscheint zwischen Matteos Brauen – die, die ich schon so gut kenne – und er blickt erneut kurz zu mir, was meinen Verdacht bestätigt, dass irgendetwas nicht stimmt. Etwas passt ihm nicht an meinem Zusammentreffen mit Adriana.
»Das haben wir doch schon besprochen. Ich kümmere mich darum«, sagt er jetzt und offenbar nicht daran interessiert, das Thema weiter zu vertiefen. »Möchtest du noch einen Kaffee?«
»Nein, danke.« Sie schüttelt den Kopf, immer noch fröhlich, scheint seine plötzlich deutlich schlechtere Laune überhaupt nicht wahrzunehmen. Doch als sie mich ansieht, liegt ein schelmisches Funkeln in ihren Augen, genau wie damals am Ende der Malklasse. Nein, denke ich, sie weiß es sehr wohl – sie ignoriert es nur, und zwar mit voller Absicht. »Hast du es Sophie eigentlich schon gesagt?«, erkundigt sie sich.
»Dazu bin ich noch nicht gekommen«, erwidert er, und mir reicht es. Offensichtlich verpasse ich hier gerade etwas.
»Worum geht es denn?«
»Um Nonnas Geburtstag«, klärt mich Adriana auf. »Sie feiert ihn morgen, und als sie gehört hat, dass ihr beide … na ja, dass ihr euch jetzt nähersteht, hat sie darauf bestanden, dass Matteo dich mitbringt.«
»Aha.« Mein Herz klopft auf einmal unangenehm schnell, und ich habe ein flaues Gefühl im Magen, als ich Matteo ansehe, der meinem Blick ausweicht. Ich soll mit zu seiner Familie fahren – und das hatte er vergessen mir zu sagen?
Adriana ignoriert die Spannung, die mit einem Mal zwischen uns herrscht, und redet einfach weiter. »Das wird total nett, mach dir keine Sorgen«, versichert sie mir, so als müsste sie mir die Zweifel nehmen, die ich bisher überhaupt nicht geäußert habe. Dann wendet sie sich an Matteo. »Ihr müsst kommen – hat sie mir gestern extra noch mal gesagt. Außerdem habt ihr das Geschenk«, erinnert sie ihn, so als stünde zu befürchten, dass Matteo ernsthaft Valentinas Geburtstag vergessen würde, was
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