Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Dieser Stich ist ein ganzes Gedicht voll glühender Melancholie, verhaltenem Ehrgeiz, versteckter Energie. Man betrachte es wohl: man findet darin Genie und Zurückhaltung, Zartheit und Größe. Die Augen sind geistvoll, wie Augen von Frauen. Der Blick durchdringt den Raum und verlangt nach Schwierigkeiten, die zu besiegen sind. Auch wenn der Name Bonaparte nicht unten stünde, würde man es lange betrachten. Der junge Mann, der diesem Stich so auffallend glich, trug gewöhnlich eine Strumpfhose in Schuhen mit plumpen Sohlen, einen Rock aus gewöhnlichem Tuch, eine schwarze Binde, eine graue Weste mit weißen Tupfen, die bis oben zugeknöpft war, und einen billigen Hut. Seine Verachtung gegen jede unnütze Toilette war unverkennbar. Diesen geheimnisvollen Unbekannten, der das Siegel auf der Stirne trug, das das Genie seinen Sklaven aufdrückt, traf Lucien am häufigsten von allen Stammgästen bei Flicoteaux; er aß dort, um zu leben, ohne sich um die Gerichte, mit denen er vertraut schien, weiter zu kümmern, und trank Wasser dazu. Auf der Bibliothek wie bei Flicoteaux zeigte er in allem eine Würde, die ohne Zweifel von dem Bewußtsein kam, daß sein Leben mit etwas Großem beschäftigt war, und die ihn unzugänglich machte. Sein Blick war nachdenklich. Auf seiner schönen, edel geschnittenen Stirne wohnte das Denken. Seine lebhaften schwarzen Augen, die gut und schnell sahen, sprachen von der Gewohnheit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er war sparsam in seinen Handbewegungen und bewahrte immer seine ernste Haltung. Lucien empfand unwillkürlich Respekt vor ihm. Schon mehrere Male hatten sie sich, wenn sie sich auf dem Wege zu oder von der Bibliothek oder dem Restaurant trafen, angesehen, als ob sie miteinander sprechen wollten, aber beide hatten es nicht gewagt. Der schweigsame junge Mann ging immer in den hintern Teil des Saals, dessen Fenster nach der Place de la Sorbonne gingen, und Lucien hatte also keine Gelegenheit, ihm näherzutreten, obwohl er sich zu diesem jungen Studierenden, an dem sich die undefinierbaren Anzeichen der Überlegenheit geltend machten, hingezogen fühlte. Beide waren, wie sie selbst später fanden, keusche und schüchterne Naturen, die sich all der Scheu und Zagheit überließen, die für Einsame eine notwendige und sogar angenehme Stimmung sind. Hätten sie sich nicht jetzt im Augenblick des Unheils, das Lucien zugestoßen war, plötzlich getroffen, wären sie vielleicht nie in Verbindung miteinander gekommen. Als Lucien nämlich in die Rue des Grès einbog, sah er den jungen Unbekannten, der von Sainte-Geneviève zurückkam.
    »Die Bibliothek ist geschlossen, ich weiß nicht warum«, sagte er zu ihm.
    In diesem Augenblick hatte Lucien Tränen in den Augen, und er dankte dem Unbekannten mit einer der Gesten, die beredter sind als die Sprache und die von Jüngling zu Jüngling sofort die Herzen öffnen. Sie gingen zusammen die Rue des Grès hinunter und wandten sich nach der Rue de la Harpe.
    »Ich werde jetzt im Luxembourg spazieren gehen,« sagte Lucien, »wenn man erst ausgegangen ist, ist es nicht leicht, zum Arbeiten nach Hause zu gehen.«
    »Man ist nicht mehr in seinem rechten Gedankengang«, bemerkte der Unbekannte. »Sie scheinen Kummer zu haben?«
    »Ich habe eben ein seltsames Erlebnis gehabt«, sagte Lucien.
    Er erzählte von seinem Besuch auf dem Kai und bei dem alten Buchhändler und von den Vorschlägen, die dieser ihm gemacht hatte, er nannte seinen Namen und fügte einige Worte über seine Lage hinzu. Seit ungefähr einem Monat hatte er sechzig Franken fürs Leben ausgegeben, dreißig Franken im Hotel, zwanzig Franken fürs Theater und zehn Franken fürs Lesekabinett, im ganzen hundertzwanzig Franken, und er hatte nur noch hundertzwanzig Franken übrig.
    »Ihre Geschichte«, sagte der Unbekannte zu ihm, »ist die meine und die von tausend jungen Leuten von zwölfhundert, die jährlich aus der Provinz nach Paris kommen. Wir sind noch nicht die Unglücklichsten. Sehen Sie dieses Theater?« fragte er und wies auf den Giebel des ›Odéon‹. »Eines Tages zog in eins der Häuser, die auf dem Platze stehen, ein talentvoller Mann ein, der im tiefsten Elend war, er war, das ist eine Steigerung des Unglücks, die wir beide nicht kennen, verheiratet mit einer Frau, die er liebte; er besaß – man weiß nicht, soll mans ein Glück oder ein Unglück nennen – zwei Kinder, die Schulden fraßen ihn auf, aber er vertraute seiner Feder. Er überreichte dem Odéon ein fünfaktiges

Weitere Kostenlose Bücher