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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Lustspiel; es wird angenommen, es erlangt eine gute Besetzung, die Schauspieler studieren es ein, und der Direktor beschleunigt die Proben. Diese fünf Glücksfälle stellen Dramen vor, die noch schwieriger zu verwirklichen als fünf Akte zu schreiben sind. Der arme Schriftsteller, der auf einem Dachboden wohnt, den Sie von hier aus sehen können, erschöpft seine letzten Mittel, um während der Einstudierung seines Stücks leben zu können, seine Frau trägt ihre Kleider aufs Leihhaus, die Familie ißt nur Brot. Am Tage der letzten Probe, einen Tag vor der Aufführung, schuldeten sie dem Wirt, dem Bäcker, der Milchfrau, dem Portier fünfzig Franken. Der Dichter hatte das unumgänglich Notwendige behalten: einen Rock, ein Hemd, eine Hose, eine Weste und Stiefel. Er war des Erfolgs sicher, umarmte seine Frau und sagte ihr, sie stünden nun vor dem Ende ihres Elends. ›Endlich steht uns nichts mehr entgegen‹, rief er aus. – ›Es brennt,‹ sagte die Frau, ›sieh nur, das Odéon brennt!‹ Werter Herr, das Odéon brannte. Sie dürfen nicht klagen. Sie haben Kleider, Sie haben weder Frau noch Kinder, Sie haben für hundertzwanzig Franken Zufall in der Tasche und sind keinem Menschen etwas schuldig. Das Stück ist später im Théâtre Louvois hundertfünfzigmal aufgeführt worden. Der König hat dem Verfasser eine Pension bewilligt. Buffon hat gesagt: ›Das Genie ist die Geduld.‹ Die Geduld ist in der Tat das, was bei Menschen am meisten dem Verfahren gleicht, das die Natur in ihren Schöpfungen anwendet. Was ist die Kunst, werter Herr? Sie ist konzentrierte Natur.«
    Die beiden jungen Leute gingen jetzt mit großen Schritten im Luxembourg hin und her. Lucien erfuhr bald den seitdem berühmt gewordenen Namen des jungen Mannes, der sich bemühte, ihn zu trösten. Es war Daniel d'Arthez, der heute einer der berühmtesten Schriftsteller unserer Zeit ist, einer der seltenen Menschen, die nach dem schönen Wort eines Dichters »ein schönes Talent und einen schönen Charakter« vereinigen.
    »Man gelangt nicht billig dazu, ein großer Mann zu werden«, sagte Daniel mit seiner sanften Stimme. »Das Genie begießt seine Werke mit seinen Tränen. Das Talent ist auf geistigem Gebiet ein Geschöpf, das, wie alle lebendigen Wesen, eine Kindheit hat, die von Krankheiten nicht verschont bleibt. Die Gesellschaft stößt die unvollkommenen Talente zurück, wie die Natur die schwachen oder mißgebildeten Geschöpfe vernichtet. Wer sich über die Menschen erheben will, muß sich zu einem Kampf rüsten, darf vor keiner Schwierigkeit zurückschrecken. Ein großer Schriftsteller ist ein Märtyrer, der nicht sterben kann. Damit ist alles gesagt. Sie haben das Siegel des Genies auf der Stirn«, sagte d'Arthez zu Lucien, indem er ihn mit einem Blick umfaßte. »Wenn Sie nicht in der Brust den Willen haben, wenn Sie nicht die himmlische Geduld haben, wenn Sie nicht in dem Augenblick, wo die Launen des Geschicks Sie weit vom Ziel schleudern, wenn Sie da nicht, wie die Schildkröten, die, wo sie auch sein mögen, den Weg zu ihrem geliebten Meere einschlagen, gleich wieder unverzagt nach Ihrer Unendlichkeit streben, dann geben Sie den Kampf gleich heute auf.«
    »Sie machen sich also auf Leiden gefaßt?« fragte Lucien.
    »Auf Prüfungen aller Art, auf die Verleumdung, den Verrat, die Ungerechtigkeit meiner Rivalen, auf die Unverschämtheiten, die Schliche, die Geldgier der Handelsleute«, antwortete der junge Mann in resigniertem Tone. »Wenn Ihr Werk gut ist, was liegt an einer ersten Niederlage?«
    »Wollen Sie es lesen und mir Ihr Urteil sagen?« fragte Lucien.
    »Gern«, antwortete d'Arthez. »Ich wohne Rue des Quatre-Vents, in einem Hause, wo einer der berühmtesten Männer, einer der trefflichsten Geister unserer Zeit, eine Leuchte der Wissenschaft, Desplein, der größte Chirurg, den wir kennen, sein erstes Martyrium durchmachte und sich mit den ersten Schwierigkeiten des Lebens und des Ruhms in Paris herumschlagen mußte. Diese Erinnerung gibt mir jeden Abend die Dosis Mut, die ich jeden Morgen brauche. Ich wohne in dem Zimmer, wo er oft, wie Rousseau, aber ohne eine Therese, Brot und Kirschen gegessen hat. Kommen Sie in einer Stunde, ich werde zu Hause sein.«
    Die beiden Dichter verabschiedeten sich voneinander mit einem Händedruck voll melancholischer Herzlichkeit. Lucien ging nach Hause, um sein Manuskript zu holen. Daniel d'Arthez trug seine Uhr aufs Leihhaus, um zwei Bund Holz kaufen zu können, damit er für seinen neuen

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