Verlorene Illusionen (German Edition)
Freund die Stube heizen konnte, denn es war kalt. Lucien fand sich pünktlich ein. Das Haus, in dem Daniel wohnte, war noch armseliger als sein Hotel. Man mußte erst durch einen düstern Gang hindurch, an dessen Ende die dunkle Treppe hinaufging. Das Zimmer Daniels lag im fünften Stock; es hatte zwei kleine Fenster, zwischen denen sich ein Regal aus schwarzem Holz befand, das voller Kartons stand, die mit Etiketten beklebt waren. Ein armseliges Bett aus angestrichenem Holz, das eher eine Pritsche zu nennen war, ein irgendwie aus zweiter Hand gekaufter Nachttisch und zwei Lehnstühle mit Roßhaarpolster standen im hintern Teil dieses Zimmers, dessen Tapeten vom Rauch und von der Zeit geschwärzt waren. Ein großer, mit vielen Papieren bedeckter Tisch stand zwischen dem Kamin und den beiden Fenstern. Diesem Kamin gegenüber befand sich eine elende Mahagonikommode. Ein längst abgenutzter Teppich lag über dem ganzen Fußboden. Dieser notwendige Luxus sparte das Heizen. Ein gewöhnlicher Schreibtischstuhl, dessen rotlederner Überzug vom vielen Sitzen weiß geworden war, und sechs schlechte Stühle vervollständigten die Einrichtung. Auf dem Kamin bemerkte Lucien einen alten Armleuchter, auf dem vier Wachskerzen steckten. Als Lucien fragte, warum es Wachskerzen wären, da er sonst in allen Dingen die Spuren der äußersten Armut sah, erwiderte ihm d'Arthez, der Geruch der Unschlittkerze wäre ihm unerträglich. Dieser Umstand sprach von großer Sensibilität. Die Vorlesung dauerte sieben Stunden. Daniel hörte, ohne ein Wort zu sagen oder eine Bemerkung zu machen, andächtig zu – ein Zeichen guten Tons, das man bei Zuhörern sehr selten findet.
»Nun?« fragte Lucien, während er das Manuskript auf den Kamin legte.
»Sie sind auf einem schönen und guten Wege,« antwortete der junge Mann ernst; »aber Ihr Werk muß verbessert werden. Wenn Sie nicht der Affe Walter Scotts sein wollen, müssen Sie sich eine andere Technik schaffen: Sie haben ihn nachgeahmt. Sie beginnen wie er mit langen Gesprächen, um Ihre Person einzuführen; wenn Sie geplaudert haben, gehen Sie zur Beschreibung und zur Handlung über. Das Gegeneinanderwirken der Kräfte, das jedem Werke, das dramatisch wirken soll, so notwendig ist, kommt an letzter Stelle. Sie müssen die Glieder des Verhältnisses vertauschen. Ersetzen Sie diese weitschweifigen Gespräche, die bei Scott prächtig, aber bei Ihnen farblos sind, durch Beschreibungen, für die unsere Sprache so trefflich geeignet ist. Der Dialog sollte bei Ihnen die erwartete Konsequenz sein, die Ihre Vorbereitungen krönt. Beginnen Sie gleich mit der Handlung. Fassen Sie Ihren Stoff bald von der Seite und bald von hinten an; kurz, Ihre Darstellung muß mannigfaltiger werden, und Sie dürfen nie der nämliche sein. Sie werden etwas Neues bringen, obwohl Sie die Form des dialogisierten Dramas des Schotten auf die französische Geschichte anwenden. Walter Scott ist ohne Leidenschaft, er kennt sie nicht, oder vielleicht wird sie ihm von den heuchlerischen Sitten seines Landes verboten. Für ihn ist die Frau die verkörperte Pflicht. Mit seltenen Ausnahmen sind seine Heldinnen immer dieselben, er hat, wie die Maler sagen, für sie nur ein Modell gehabt. Sie stammen alle von Clarissa Harlowe ab; er hat sie alle auf eine Idee gebracht und konnte so nur Exemplare des nämlichen Typus hinstellen, die durch ein mehr oder weniger lebhaftes Kolorit variiert sind. Die Frau trägt durch die Leidenschaft die Unordnung in die Gesellschaft. Die Leidenschaft hat unendlich viele Abstufungen. Schildern Sie doch die Leidenschaften, dann fließen Ihnen die unversiegbaren Quellen, deren sich dieser große Geist beraubt hat, um in allen Familien des prüden England gelesen zu werden. In Frankreich finden Sie in der leidenschaftlichsten Periode unserer Geschichte die reizenden Laster und die glänzenden Sitten des Katholizismus im Gegensatz zu den düstern Gestalten des Kalvinismus. Die Regierung eines jeden Königs von Karl dem Großen an erfordert mindestens einen Roman und manchmal vier oder fünf, wie zum Beispiel für Ludwig XIV., Heinrich IV. und Franz I. Auf diese Weise schreiben Sie eine malerische Geschichte Frankreichs, in der Sie die Möbel, die Häuser, die Einrichtungen, das Privatleben schildern und dabei den Geist der Zeit darstellen, anstatt daß Sie bekannte Tatsachen peinlich nacherzählen. Sie haben ein Mittel, originell zu sein, indem Sie nämlich die herkömmlichen Irrtümer, die die meisten unserer
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