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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ist ein großer praktischer Philosoph. Seine Weltweisheit, seine Beobachtungsgabe, seine Verachtung des Ruhms, den er ein Possenspiel nennt, haben sein Herz durchaus nicht verkümmert. Er ist ebenso tätig für einen andern, wie er gegen seine eigenen Interessen gleichgültig ist, und wenn er sich in Bewegung setzt, geschieht es für einen Freund. Er straft sein eines Rabelais würdiges Aussehen nicht Lügen, ist durchaus kein Verächter von gutem Essen und Trinken, läuft ihm aber nicht nach; er ist zugleich melancholisch und heiter, seine Freunde nennen ihn den Regimentshund – wie die Soldaten ihren Korporal zu heißen pflegen –, und nichts schildert ihn treffender als dieser Spitzname. Drei andere, die mindestens ebenso bedeutend waren wie diese vier Freunde, deren Profil hier gezeichnet wurde, mußten hintereinander zugrunde gehen. Zuerst Meyraux, der starb, nachdem er den berühmten Streit zwischen Cuvier und Geoffroy Saint Hilaire erregt hatte, die große Frage, die die wissenschaftliche Welt zwischen diese beiden ebenbürtigen Gegnern teilen sollte. Er starb einige Monate früher, als der Mann, der für eine beschränkte und analytische Wissenschaft gegen den Pantheisten eintrat, der noch lebt und den Deutschland verehrt. Meyrauf war der Freund jenes Louis, den ein allzu früher Tod der Welt der Wissenschaft bald entreißen sollte. Diesen beiden Männern, die beide vom Tod gezeichnet waren, die beide heutzutage trotz der außerordentlichen Weite ihres Wissens und ihres Geistes unbekannt sind, muß man Michel Chrestien hinzufügen, einen geistesstarken Republikaner, der von der Föderation Europas träumte und im Jahre 1830 in der geistigen Bewegung der Saint-Simonisten eine große Rolle spielte. Michel Chrestien war ein Politiker von der Kraft eines Saint Just und Danton, aber dabei schlicht und zart wie ein junges Mädchen, voller Illusionen und voller Liebe; er besaß eine melodische Stimme, die Mozart, Weber oder Rossini entzückt hätte, und hatte eine bezaubernde Art, in der Poesie, Liebe und Hoffnungsfreudigkeit lagen, gewisse Lieder Bérangers zu singen. Dabei war er arm wie Lucien, wie Daniel, wie alle seine Freunde und fristete sein Leben mit der Unbekümmertheit eines Diogenes. Er machte Inhaltsverzeichnisse für große Werke, Prospekte für die Verleger und war im übrigen über seine Anschauungen und Theorien so stumm wie ein Grab über die Geheimnisse des Todes. Dieser fröhliche Zigeuner der Intelligenz, dieser große Staatsmann, der vielleicht das Antlitz der Welt umgestaltet hätte, starb als einfacher Soldat im Kloster Saint-Merri. Die Kugel irgendeines Krämers tötete da eines der edelsten Geschöpfe, die je auf französischem Boden lebten. Michel Chrestien starb nicht für seine eigenen Anschauungen. Seine Föderation bedrohte die europäische Aristokratie viel mehr als die republikanische Propaganda; sie war rationeller und weniger toll als die schauderhaften Ideen von unbegrenzter Freiheit, die die jungen Toren verkünden, die sich als Erben des Konvents gebärden. Dieser edle Plebejer wurde von allen, die ihn kannten, betrauert; es lebt keiner von ihnen, der nicht oft an diesen unbekannten großen Politiker denkt.
    Diese neun Personen bildeten zusammen einen Zirkel, in dem Achtung und Freundschaft Frieden zwischen den entgegengesetztesten Meinungen und Theorien geboten. Daniel d'Arthez, ein Edelmann aus der Pikardie, vertrat mit der gleichen Überzeugung den Monarchismus, wie Michel Chrestien seinen europäischen Föderalismus, Fulgence Nidal machte sich über die philosophischen Theorien von Léon Giraud lustig, der seinerseits d'Arthez das Ende des Christentums und der Familie voraussagte. Michel Chrestien, der an die Religion Christi, des göttlichen Gesetzgebers und Predigers der Gleichheit, glaubte, verteidigte die Unsterblichkeit der Seele gegen das Seziermesser Bianchons, der ein scharfer Kritiker par excellence war. Sie diskutierten, aber sie stritten nicht. Sie hatten keinerlei Eitelkeit, da sie selber ihre einzigen Zuhörer waren. Sie teilten einander ihre Arbeiten mit und gaben sich mit der wundervollen Loyalität der Jugend gute Ratschläge. Handelte es sich um eine ernsthafte Angelegenheit, so vertrat der Gegner seine Meinung nicht weiter, sondern ging in den Gedankengang seines Freundes ein und war um so mehr bereit, ihm zu helfen, als er in einer Sache oder einem Werke, das abseits seiner eigenen Ideen war, unparteiisch sein konnte. Fast alle besaßen einen sanften und

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