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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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duldsamen Geist, zwei Eigenschaften, die ihre Überlegenheit bekundeten; der Neid, diese schreckliche Zuflucht unserer getäuschten Hoffnungen, unserer verkümmerten Talente, unserer Mißerfolge, unserer gekränkten Eitelkeit, war ihnen unbekannt. Überdies gingen sie alle auf ganz verschiedenen Wegen. Daher fühlten sich auch alle, die, wie Lucien, in ihre Gesellschaft aufgenommen wurden, wohl bei ihnen. Das wahre Talent ist immer gutmütig und treuherzig, offen, ohne Pedanterie; ein spitzes Wort von ihm schmeichelt dem Geist und trifft nie die Eigenliebe. War erst einmal die Scheu, die der Respekt verursachte, überwunden, so verbrachte man entzückende Stunden mit diesen erlesenen jungen Leuten. Der trauliche Verkehr schloß nie das Bewußtsein aus, das jeder von seinem Wert hatte, jeder empfand die tiefste Achtung vor seinem Nachbar, kurz, da jeder sich imstande fühlte, seinerseits bald der Gebende, bald der Nehmende zusein, nahmen sie ohne alle Umstände voneinander an. Die Unterhaltungen waren immer reizvoll und nie ermüdend und erstreckten sich auf die mannigfaltigsten Gegenstände. Die feingeschliffenen Worte waren leicht wie Pfeile, schwirrten schnell und gingen in die Tiefe. Die große äußere Not und dieser Glanz des geistigen Reichtums standen in einem seltsamen Gegensatz. Niemand in diesem Kreis dachte anders an die Wirklichkeiten des Lebens, als um heitern Scherz damit zu treiben. An einem Tag, wo vor der Zeit Kälte eingetreten war, waren fünf Freunde von d'Arthez, als sie zu ihm kamen, auf denselben Gedanken gekommen und brachten alle fünf unter ihrem Mantel Holz mit – wie bei den Picknicks, wo jeder ein Gericht mitbringen soll und alle eine Pastete bringen. Es eignete ihnen allen jene Schönheit des Geistes, die auf die äußeren Formen einwirkt und die nicht weniger als das Arbeiten und die Nachtwachen den jungen Gesichtern einen himmlischen Glanz verleiht; sie hatten jene ein wenig gequälten Züge, die von der Reinheit des Lebens und vom Feuer des Gedankens stammen. Sie alle hatten echte hohe Dichterstirnen. Ihre lebhaften und glänzenden Augen zeugten für ein fleckenloses Leben. Die Leiden des Elends wurden von allen so heiter ertragen und so geradezu mit Glut umfangen, daß sie an dem Frohsinn nichts änderten, der den Gesichtern der jungen Leute, die noch von ernsten Lastern frei sind, eigen ist. Sie hatten sich in keine der erbärmlichen Kompromisse eingelassen, die infolge schlecht ertragener Not, der Lust, gleichviel durch welche Mittel ans Ziel zu gelangen, und der gefälligen Nachsicht, mit der die Literaten Verrat und Schlechtigkeit aufnehmen oder verzeihen, so viele Menschen verderben. Was Freundschaften unauflöslich macht und ihren Reiz verdoppelt, ist ein Gefühl, das der Liebe fehlt: die Sicherheit. Diese jungen Leute waren sich ihrer selbst gewiß: der Feind des einen wurde der Feind aller, sie hätten ihre wichtigsten Interessen hintangesetzt, um ihrer heiligen Herzensgemeinschaft zu dienen. Keiner von ihnen war einer Erbärmlichkeit fähig, und jeder konnte jeder Anschuldigung ein gewaltiges Nein entgegensetzen und den andern zuversichtlich verteidigen. Sie waren in gleicher Weise edelmütig und besaßen die gleiche Kraft in allen Angelegenheiten des Gefühls, und so konnten sie auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Intelligenz alles denken und einander alles sagen; daher kam die Unschuld ihres Verkehrs, die Heiterkeit ihrer Rede. Sie waren sicher, einander zu verstehen, und so konnte ihr Geist nach Belieben abschweifen; so machten sie auch keinerlei Umstände miteinander, vertrauten sich ihre Schmerzen und Freuden an und dachten und litten aus vollem Herzen. Die entzückende Zartheit, die aus der Fabel von den beiden Freunden einen Schatz für große Seelen macht, war ihnen etwas Selbstverständliches. Ihre Strenge, wenn es sich darum handelte, ob ein Neuling in ihren Kreis zugelassen werden sollte, ist begreiflich: sie hatten zu sehr das Bewußtsein ihrer Größe und ihres Glücks, als daß sie es durch die Zulassung neuer unbekannter Elemente hätten stören lassen wollen.
    Dieser Bund des Gefühls und der gemeinsamen Interessen dauerte ohne Störung oder Irrung zwanzig Jahre hindurch. Der Tod allein, der ihnen Louis Lambert, Meyraux und Michel Chrestien nahm, konnte diese edle Plejade vermindern. Als im Jahre 1832 dieser Letztgenannte sein Ende fand, begaben sich Horace Bianchon, Daniel d'Arthez, Léon Giraud, Joseph Bridau und Fulgence Ridal trotz der Gefahr des

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