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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Schrittes nach Saint-Merri, um dort seinen Leichnam zu holen und ihm, aller leidenschaftlichen Politik zum Trotz, die letzten Ehren zu erweisen. Sie begleiteten die geliebten Reste nachts zum Friedhof Père Lachaise. Horace Bianchon hob alle Schwierigkeiten und wich vor keiner zurück; er suchte die Minister auf und verleugnete seine alte Freundschaft für den verstorbenen Föderalisten nicht. Es war eine rührende Szene, die unaustilgbar im Gedächtnis der wenigen Freunde eingegraben ist, die zusammen mit den fünf berühmten Männern dort waren. Wer sich auf diesen eleganten Friedhof begibt, sieht dort ein Grab, das für dauernde Zeiten gekauft ist. Aus dem Rasen erhebt sich ein Kreuz aus schwarzem Holz, auf dem in roten Lettern der Name Michel Chrestien steht. Es ist das einzige Denkmal dieser Art auf diesem vornehmen Friedhof. Die fünf Freunde waren der Meinung, man müsse diesem schlichten Menschen mit solcher Schlichtheit huldigen.
    In dieser kalten Mansarde verwirklichten sich also die schönsten Träume des Herzens. Da kamen Brüder zusammen, die alle auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft gleich hoch standen, belehrten sich gegenseitig voll guten Willens, sagten sich alles, selbst ihre schlechten Gedanken. Alle besaßen ein riesiges Wissen, und alle waren im Tiegel des Elends geprüft. Nachdem Lucien einmal unter diese erlesenen Personen aufgenommen und als ebenbürtig anerkannt war, vertrat er unter ihnen die Poesie und die Schönheit. Man bat ihn um ein Sonett, wie er Michel Chrestien aufforderte, ihm ein Lied zu singen. So fand Lucien in der Wüste von Paris eine Oase in der Rue des Quatre-Vents.
    Anfang Oktober hatte Lucien sein letztes Geld dazu verwandt, sich etwas Holz zu verschaffen, und stand nun inmitten der eifrigsten Arbeit an der Umgestaltung seines Werkes mittellos da. Daniel d'Arthez heizte mit Torf und ertrug heldenhaft seine Not: er klagte nicht, er hielt Ordnung wie eine alte Jungfer und glich einem Geizigen, so verstand er sich aufs Einteilen. Dieser Mut feuerte Lucien an, der als Neuling in dem Zirkel eine unüberwindliche Abneigung dagegen hatte, von seinem Elend zu sprechen. Eines Morgens ging er in die Rue du Coq, um Doguerau seinen ›Bogenschützen Karls IX.‹ zu verkaufen, traf ihn aber nicht an. Lucien wußte nicht, wieviel Nachsicht die großen Geister haben. Jeder seiner Freunde hatte Verständnis für die Schwächen, die den Dichtern eigen sind, für die Depressionen, die dem Aufschwung einer Seele folgen, die durch die Betrachtung der Natur, welche zu reproduzieren ihre Aufgabe, überreizt ist. Diese Männer, die in ihren eigenen Leiden so stark waren, waren sehr empfindlich angesichts der Schmerzen Luciens. Sie hatten seinen Geldmangel gemerkt. Der Zirkel krönte also seine Abende, die so schön mit Plaudereien, mit tiefen Betrachtungen, mit Poesie und trauten Bekenntnissen, mit Adlerflügen in die Gefilde des Geistes, in die Zukunft der Völker, in die Gebiete der Geschichte gefüllt waren, mit einem Zug, der bewies, wie schlecht Lucien seine neuen Freunde gekannt hatte.
    »Lucien, mein Freund,« sagte Daniel zu ihm, »du bist gestern nicht zu Flicoteaux zum Essen gekommen, und wir wissen warum.«
    Lucien konnte die Tränen, die ihm über die Wangen rollten, nicht zurückhalten.
    »Es hat dir an Vertrauen zu uns gefehlt,« sagte Michel Chrestien zu ihm; »wir werden ein Kreuz auf den Kamin machen, und wenn wir zu zehnt sind ...«
    »Wir haben alle«, unterbrach Bianchon, »irgendeine außergewöhnliche Arbeit gefunden: ich habe auf Rechnung Despleins einen reichen Kranken gepflegt; d'Arthez hat einen Artikel für die Revue Encyclopédique geschrieben; Chrestien wollte eines Abends in den Champs Elysées als Bänkelsänger auftreten, aber er hat eine Broschüre für jemanden zu schreiben bekommen, der ein Politiker werden will, und hat ihm für sechshundert Franken Machiavelli geliefert; Léon Giraud hat bei seinem Verleger fünfzig Franken Vorschuß bekommen; Joseph hat Skizzen verkauft, und Fulgence hat am Montag sein Stück aufführen lassen und hat ein volles Haus gehabt.«
    »Hier sind zweihundert Franken,« sagte Daniel, »nimm sie, und tu's nicht wieder.«
    »Was nicht gar: will er uns auch noch umarmen, als ob wir etwas Besonderes getan hätten«, sagte Chrestien.
    Damit wir verstehen, welche Wonnen Lucien im Kreise dieser lebendigen Enzyklopädie herrlicher Geister kostete, in der Mitte dieser jungen Männer, von denen jeder eine besondere Eigenart besaß, die

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