Verlorene Illusionen (German Edition)
sind sie verloren«, sagte der Künstler zu den beiden Schriftstellern. »Samanon ist wie ein Leichenbeschauer, der kommt, um das Maß zum Sarg zu nehmen.«
»Du bekommst deine Wechsel nicht mehr diskontiert«, sagte jetzt Etienne zu Lucien.
»Wo Samanon ablehnt,« meinte der Unbekannte, »ist mit niemandem mehr etwas zu machen. Er ist die ultima ratio ! Er ist einer der Gehilfen von Gigonnet, Palma, Werbrust, Gobseck und andern Krokodilen, die in Paris herumschwimmen und mit denen jeder, dessen Vermögen zu machen oder zu vernichten ist, früher oder später zusammentreffen muß.«
»Wenn du deine Wechsel nicht mit fünfzig Prozent diskontieren kannst,« fing Etienne wieder an, »müssen sie gegen Taler umgetauscht werden.«
»Wie?«
»Gib sie Coralie, sie wird sie Camusot präsentieren. – Du bist empört«, fuhr Lousteau fort, da Lucien indigniert zurückgetreten war. »Welche Kinderei! Kannst du deine Zukunft an einer solchen Albernheit scheitern lassen?«
»Jedenfalls will ich das Geld, das ich bis jetzt habe, einstweilen Coralie bringen«, versetzte Lucien.
»Das ist wieder eine Dummheit,« rief Lousteau, »du kannst mit vierhundert Franken nichts anfangen, wo viertausend gebraucht werden. Behalten wir etwas, um im Falle des Verlustes trinken zu können, und spielen wir.«
»Der Rat ist gut«, sagte der große Unbekannte.
Sie waren kaum vier Schritte von Frascati entfernt, und so übten diese Worte eine magnetische Kraft aus. Die beiden Freunde bezahlten ihre Droschke und stiegen die Treppe hinauf, um zu spielen. Zuerst gewannen sie dreitausend Franken, dann sanken sie auf fünfhundert herunter und gewannen wieder dreitausendsiebenhundert; dann fielen sie auf hundert Sous, erholten sich wieder bis zu zweitausend Franken, riskierten sie auf Gerade, um sie mit einem Schlage zu verdoppeln. Gerade war seit fünf Runden nicht gekommen, aber es kam wieder Ungerade. Lucien und Lousteau verließen diesen berühmten Pavillon, nachdem sie zwei Stunden in furchtbaren Aufregungen verbracht hatten. Sie hatten noch hundert Franken. Auf den Stufen des kleinen Peristyls, dessen zwei Säulen eine kleine Blechmarkise von außen stützten, die mehr als ein Auge innig oder verzweifelt betrachtet hat, sagte Lousteau, als er den glühenden Blick Luciens sah: »Riskieren wir noch fünfzig Franken!«
Die beiden Journalisten begaben sich wieder hinauf. In einer Stunde waren sie bei tausend Talern angelangt; sie setzten die tausend Taler auf Rot, das fünfmal gekommen war, sie bauten auf den Zufall, dem sie ihren früheren Verlust verdankten. Es kam Schwarz. Es war sechs Uhr.
»Riskieren wir noch fünfundzwanzig Franken«, sagte Lucien.
Dieser neue Versuch dauerte nicht lange, die fünfundzwanzig Franken waren in zehn Runden verloren. Lucien warf wütend seine letzten fünfundzwanzig Franken auf die Ziffer, die der Zahl seiner Lebensjahre entsprach, und gewann: seine Hand zitterte furchtbar, als er den Rechen nahm, um die Taler aufzunehmen, die der Bankhalter einen nach dem andern hinwarf. Er gab Lousteau zehn Louisdor und sagte zu ihm: »Rette dich zu Véry!«
Lousteau verstand Lucien und ging, um das Diner zu bestellen. Lucien blieb zurück und spielte weiter. Er setzte seine dreißig Louisdor auf Rot und gewann. Er ließ sich von der geheimen Stimme, die die Spieler manchmal verstehen, Mut machen, ließ alles auf Rot und gewann; seine Eingeweide brannten wie glühende Kohlen! Trotz der innern Stimme setzte er die hundertzwanzig Louisdor auf Schwarz und verlor. Jetzt empfand er das köstliche Gefühl, das bei den Spielern ihren furchtbaren Aufregungen folgt, wenn sie nichts mehr zu riskieren haben und die Folterkammer verlassen, in der ihre flüchtigen Träume sich abgespielt haben. Er ging zu Lousteau ins Restaurant Véry, wo er sich wild aufs Essen stürzte und seinen Kummer im Wein ertränkte. Um neun Uhr war er so völlig betrunken, daß er nicht begriff, warum die Pförtnerin aus der Rue de Vendôme ihn nach der Rue de la Lune schickte.
»Fräulein Coralie hat ihre Wohnung verlassen und ist in das Haus gezogen, dessen Adresse hier auf dem Papier steht.«
Lucien war zu betrunken, um sich über etwas zu wundern, stieg wieder in den Wagen, der ihn hergefahren hatte, und fuhr nach der Rue de la Lune. Unterwegs machte er im Selbstgespräch Witze über den Namen der Straße. An diesem Morgen war der Konkurs des Panorama Dramatique ausgebrochen. Die erschreckte Schauspielerin hatte sich beeilt, ihr ganzes Mobiliar mit
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