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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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unter denen Rastignac, Herr von Marsay und einige andere Bekannte waren. Er merkte nicht, daß Michel Chrestien und Léon Giraud auf ihn zukamen.
    »Sie sind Herr Chardon?« sagte Michel in einem Ton zu ihm, der Lucien im Innersten erbeben ließ. »Kennen Sie mich nicht?« erwiderte er. Er war blaß geworden. Michel spie ihm ins Gesicht. »Hier haben Sie das Honorar für Ihre Artikel gegen d'Arthez. Wenn jeder in seiner eigenen oder in der Sache seiner Freunde meinem Beispiel folgte, bliebe die Presse, was sie sein soll: ein heiliges Amt, das geachtet wird und Achtung verdient.«
    Lucien hatte gewankt; er stützte sich auf Rastignac und sagte zu ihm und Herrn von Marsay: »Meine Herren, Sie werden es nicht ablehnen, meine Zeugen zu sein. Aber zunächst habe ich dafür zu sorgen, daß das Spiel gleich wird und die Sache nur noch durch ein Mittel in Ordnung gebracht werden kann.«
    Damit gab Lucien Michel, der nicht darauf gefaßt war, eine starke Ohrfeige. Die Stutzer und Michels Freunde warfen sich zwischen den Republikaner und den Royalisten, damit der Kampf nicht in eine Prügelei ausartete. Rastignac nahm Lucien beim Arm und führte ihn zu sich nach Hause; er wohnte Rue Taitbout, zwei Schritte vom Schauplatz dieser Szene, die auf dem Boulevard de Gand sich zugetragen hatte. Es war gerade die Stunde des Diners, und diesem Umstande war es zu verdanken, daß keine der in solchen Fällen gewöhnlichen Ansammlungen stattfanden. Herr von Marsay und Rastignac brachten Lucien dazu, daß er mit ihnen im Café Anglais vergnügt dinierte, wo sie stark dem Weine zusprachen.
    »Können Sie gut fechten?« fragte ihn Herr von Marsay.
    »Ich habe nie einen Degen in der Hand gehabt.«
    »Und wie schießen Sie mit der Pistole?« fragte Rastignac.
    »Ich habe nie einen Schuß abgegeben.«
    »Sie haben den Zufall für sich, sind also ein schrecklicher Gegner und imstande, Ihren Widersacher zu töten«, meinte Herr von Marsay.
    Zum Glück traf Lucien Coralie im Bett an. Sie schlief. Die Schauspielerin hatte in einem kleinen Stück schnell eine Rolle übernommen und ihre Revanche gehabt: sie hatte ehrlichen, nichtbezahlten Beifall gefunden. Dieser Abend, auf den sich ihre Feinde nicht hatten vorbereiten können, bestimmte den Direktor, ihr die Hauptrolle in dem Stück von Camille Maupin zu geben; denn er hatte schließlich die Ursache von Coralies Mißerfolg bei ihrem ersten Auftreten entdeckt. Der Direktor war über die Intrigen Florinens und Nathans gegen eine Schauspielerin, auf die er Wert legte, wütend und hatte Coralie den Schutz der Direktion versprochen.
    Um fünf Uhr morgens holte Rastignac Lucien ab.
    »Mein Lieber, Sie wohnen gerade so, wie Ihre Straße aussieht«, sagte er ihm zur Begrüßung. »Wir wollen die ersten auf dem Treffplatz auf dem Weg nach Clignancourt sein, das gehört zum guten Ton, und wir müssen ein gutes Beispiel geben.«
    »Wir haben folgendes Programm«, sagte Herr von Marsay, während der Wagen in das Faubourg Saint-Denis rollte. »Sie schlagen sich auf Pistolen auf fünfundzwanzig Schritte Distanz, bis auf fünfzehn Schritte Distanz kann jeder nach Belieben sich dem andern nähern. Jeder hat fünf Schritte und darf drei Schüsse abgeben, nicht mehr. Wie es auch kommt, verpflichten Sie sich beide, es dabei bewenden zu lassen. Wir laden die Pistolen Ihres Gegners, und seine Zeugen laden die Ihrigen. Die Waffen sind von den vier Zeugen gemeinschaftlich bei einem Waffenhändler ausgesucht worden. Ich versichere Ihnen, daß wir dem Zufall nachgeholfen haben: Sie haben Kavalleriepistolen.«
    Für Lucien war das Leben ein böser Traum geworden, es war ihm gleichgültig, ob er am Leben blieb oder starb. Der Mut, der den Selbstmördern eigen ist, verschaffte ihm also in den Augen der Personen, die seinem Duell beiwohnten, den Eindruck eines gleichgültig tapfern Auftretens. Er blieb, ohne sich vom Platz zu bewegen, stehen. Diese Unbekümmertheit galt für eine kühle Berechnung, man fand in diesem Dichter einen sehr starken Mann. Michel Chrestien schritt vor, so weit er durfte. Die beiden Gegner feuerten zu gleicher Zeit, denn die Beleidigungen waren auf beiden Seiten für gleich erklärt worden. Beim ersten Schuß streifte die Kugel Chrestiens Luciens Kinn, während dessen Kugel zehn Fuß über dem Kopf seines Gegners wegflog. Beim zweiten Schuß blieb die Kugel Michels im Rockkragen des Dichters stecken, der zum Glück mit Steifleinen gesteppt war. Beim dritten Schuß erhielt Lucien die Kugel in die Brust

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