Verlorene Illusionen (German Edition)
ihnen seine Lage berichtete; aber jeder seiner Kollegen hatte ihm ein ebenso schreckliches Drama zu erzählen; und als jeder seine Lage dargelegt hatte, fand der Dichter, daß er von den vieren noch am wenigsten unglücklich sei. Und so hatten sie alle das Bedürfnis, ihr Unglück und ihre Gedanken, die das Unglück verdoppelten, zu vergessen. Lousteau ging ins Palais Royal, um dort mit den neun Franken, die ihm von seinen zehn geblieben waren, zu spielen. Der große Unbekannte ging, obwohl er eine himmlische Geliebte hatte, in ein schlechtes Haus, um dort im Pfuhl gefährlicher Wollust unterzutauchen. Vignon begab sich in den Petit Rocher de Cancale in der Absicht, dort zwei Flaschen Bordeaux zu trinken, um für eine Weile Vernunft und Gedächtnis loszuwerden. Lucien verließ Claude Vignon auf der Schwelle des Restaurants, er wollte nicht mithalten. Der große Mann aus der Provinz drückte dem einzigen Journalisten, der ihm nicht feindlich gewesen war, die Hand; es war ihm furchtbar weh zumute.
»Was soll ich tun?« fragte er ihn.
»So gehts im Krieg«, erwiderte der große Kritiker. »Ihr Buch ist schön, aber es hat Ihnen Neider gebracht, Sie werden einen langen und schweren Kampf vor sich haben. Das Genie ist eine schwere Krankheit. Jeder Schriftsteller trägt ein Scheusal in seinem Herzen, das, wie der Bandwurm in den Därmen, die Gefühle im Entstehen auffrißt. Wer wird siegen? Die Krankheit über den Menschen oder der Mensch über die Krankheit? Man muß ein großer Mensch sein, um den Ausgleich zwischen seinem Genie und seinem Charakter zu finden. Das Talent wächst, das Herz schrumpft ein. Wenn man nicht ein Koloß ist, wenn man nicht die Schultern des Herkules hat, bleibt man entweder ohne Herz oder ohne Talent zurück. Sie sind zart und schwächlich. Sie werden unterliegen«, fügte er hinzu und trat in das Wirtshaus ein.
Lucien dachte auf dem Weg nach Hause über diesen schrecklichen Urteilsspruch nach, dessen tiefe Wahrheit ihm über das literarische Leben Licht gab.
»Geld!« rief eine Stimme in ihm.
Er verfertigte selbst drei Wechsel über je tausend Franken auf ein, zwei und drei Monate Ziel an seine Order, auf denen er mit erstaunlicher Vollendung die Unterschrift David Séchards nachahmte; er indossierte sie und brachte sie dann am Tage darauf zu Métivier, dem Papierhändler in der Rue Serpente, der sie ihm ohne jede Schwierigkeit diskontierte. Lucien schrieb seinem Schwager einige Zeilen, um ihn von diesem Angriff auf seine Kasse zu benachrichtigen, und versprach ihm, wie es üblich ist, am Verfalltag für die Einlösung zu sorgen. Die Schulden Coralies und Luciens wurden bezahlt, es blieben dreihundert Franken, die der Dichter Berenice übergab. Dabei sagte er ihr, sie sollte ihm nichts geben, wenn er Geld verlangte; er fürchtete, von der Spielleidenschaft gepackt zu werden. Lucien, der von einer düstern, kalten und schweigenden Wut beseelt war, schrieb, während er bei Coralie wachte, beim Schein einer Lampe seine geistvollsten Artikel. Wenn er aufblickte, um nachzudenken, sah er dieses geliebte Weib, das blaß wie aus Porzellan war, das die Schönheit der Sterbenden hatte, das ihm mit zwei blassen Lippen zulächelte und ihn mit großen, glänzenden Augen ansah, wie sie die Frauen haben, die nicht allein an Krankheit, sondern auch an Kummer sterben. Lucien schickte seine Artikel an die Zeitungen; aber da er nicht auf die Redaktionen gehen und die Chefredakteure bearbeiten konnte, erschienen sie nicht. Als er sich entschloß hinzugehen, empfing ihn Théodore Gaillard, der ihm Vorschüsse gegeben hatte und der später diese literarischen Kleinode benutzte, sehr frostig.
»Schonen Sie sich, mein Lieber, Sie haben keinen Geist mehr; lassen Sie sich nicht niederschlagen, nur Mut!« sagte er zu ihm. »Der Lucien, dieses Kerlchen, hatte nur seine Romane und seine ersten Artikel im Kopf«, riefen Félicien Vernou, Merlin und alle, die ihn haßten, wenn bei Dauriat oder im Vaudeville von ihm die Rede war. »Er schickt uns jämmerliches Zeug.«
Wenn die Journalisten erst einmal dieses Wort gesprochen haben, daß einer nichts im Kopfe hat, ist es schwer, dagegen zu appellieren. Dieses Wort, das überall weitererzählt wurde, war für Lucien tödlich, ohne daß er es wußte, denn er hatte jetzt Sorgen, die über seine Kräfte gingen. Mitten in seinen aufreibenden Arbeiten wurde er wegen der Wechsel David Séchards verfolgt, und er mußte seine Zuflucht zu der Erfahrung Camusots nehmen. Der
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