Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
zitternden Lippen darauf zu drücken.
    »Kind! Kind! wenn man uns sähe, machte ich mich sehr lächerlich«, sagte sie und befreite sich gewaltsam aus ihrer Hingenommenheit und Erstarrung.
    An diesem Abend richtete der Geist der Frau von Bargeton in dem, was sie die Vorurteile Luciens nannte, große Verheerungen an. Wenn man sie hörte, hatten geniale Menschen keine Geschwister und keine Eltern, die großen Werke, die sie errichten müßten, legten ihnen einen scheinbaren Egoismus auf und zwängen sie, alles ihrer Größe zu opfern. Wenn die Familie im Anfang unter schweren Kontributionen litte, die ein gigantisches Hirn von ihnen eintriebe, sie erhielte später hundertfach den Preis der Opfer aller Art wieder, die für die ersten Kämpfe eines königlichen Menschen gegen Feinde aller Art erfordert würden, und teilten die Früchte des Sieges. Das Genie sei nur sich selbst unterworfen, es sei der alleinige Richter seiner Mittel, denn es allein kenne das Ende: es müsse sich also über die Gesetze stellen, da es dazu berufen sei, sie zu erneuern; wer sich überdies seines Jahrhunderts bemächtigte, konnte alles nehmen und alles wagen, denn alles gehörte ihm. Sie erinnerte ihn an die Lebensanfänge von Bernhard Palissy, Ludwig XI., Fox, Napoleon, Kolumbus, Cäsar, an alle berühmten, wagemutigen Spieler, die zuerst von Schulden aufgefressen wurden, oder unglücklich, unverstanden waren, für Narren, schlechte Söhne, schlechte Väter, schlechte Brüder gehalten wurden, aber die später der Stolz der Familie, des Landes, der Welt wurden. Diese Erwägungen stimmten gut zu der geheimen Lasterhaftigkeit Luciens und förderten das Verderben seines Herzens, denn in der Hitze seiner Wünsche bewilligte er sich die Mittel a priori . Aber nicht zum Ziele kommen, war ein soziales Majestätsverbrechen. Hatte nicht ein Besiegter alle Bürgertugenden ermordet, auf denen die Gesellschaft beruht, die mit Entrüstung jeden Marius verjagt, der auf ihren Ruinen sitzt? Lucien, der nicht wußte, daß er zwischen dem schmählichen Bagno und den Palmen des Genies schwebte, stand hoch oben auf dem Sinai der Propheten, ohne zu seinen Füßen das Tote Meer, das grauenhafte Leichentuch Gomorras, zu sehen.
    Louise befreite Herz und Geist ihres Dichters so gut von den Gängelbändern, an denen ihn das Provinzleben bisher festgehalten hatte, daß Lucien es unternahm, Frau von Bargeton auf die Probe zu stellen, um zu erfahren, ob er, ohne sich der Schande einer Zurückweisung auszusetzen, diese stolze Beute erobern könnte. Die Abendunterhaltung, die angekündigt war, gab ihm Gelegenheit, diese Probe anzustellen. Der Ehrgeiz mischte sich in seine Liebe. Er liebte und wollte hochkommen, ein Doppelwunsch, der bei jungen Leuten sehr natürlich ist, die ein Herz haben, das nach Befriedigung lechzt, und die Not, der sie entrinnen wollen. Die Gesellschaft, die heutzutage alle ihre Kinder an denselben Tisch ladet, erweckt ihren Ehrgeiz schon im Morgen des Lebens. Sie nimmt der Jugend ihre Anmut und verdirbt die meisten ihrer edelmütigen Gefühle, da sie sie mit Berechnung vermengt. Die Poesie möchte, daß es anders wäre; aber die Tatsachen strafen zu oft die Dichtung, an die man glauben möchte, Lügen, als daß man sich erlauben könnte, den jungen Mann anders darzustellen, als er im neunzehnten Jahrhundert ist. Die Berechnung, die Lucien machte, schien ihm einem edlen Gefühl zu dienen, seiner Freundschaft für David.
    Lucien schrieb seiner Louise einen langen Brief, denn er war mit der Feder kühner als mit dem gesprochenen Wort. Auf zwölf Blättern, die er dreimal abschrieb, erzählte er von dem Genie seines Vaters, seinen gescheiterten Hoffnungen und dem schrecklichen Elend, dem er preisgegeben war. Er schilderte seine liebe Schwester als einen Engel, David als einen Cuvier der Zukunft, der, ehe er ein großer Mann wurde, ihm Vater, Bruder und Freund war; er schrieb, daß er sich unwürdig glaubte, von Louise, auf die er so stolz war, geliebt zu werden, wenn er sie nicht bäte, für David dasselbe zu tun, was sie für ihn täte. Er verzichtete lieber auf alles, als daß er David Sèchard verriete, er wollte, daß David bei seinem Erfolg zugegen wäre. Er schrieb einen der tollen Briefe,in denen die jungen Menschen jeder Weigerung die Pistole entgegenhalten, in denen die Willkür des Kindes und die unsinnige Logik der schönen Seelen in der kostbarsten Wortfülle sich ausspricht, die mit den naiven Erklärungen geschmückt wird, wie sie dem

Weitere Kostenlose Bücher