Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
schönsten Blumen des Empfindens geschmückten Lebens, dieser geniale David, der ihn so edel unterstützt hatte, der ihm, wenn es nottäte, sein Leben opferte, seine Mutter, die in ihrer niedrigen Lage nicht aufhörte, die große Dame zu sein, die von ihm glaubte, er wäre ebenso gut, wie er geistvoll war, seine Schwester, die in ihrem stillen Dulden, ihrer reinen Kindlichkeit und ihrer Unschuld so anmutig war, seine Hoffnungen, die noch kein Sturmwind entblättert hatte, all dessen gedachte er. Er sagte sich jetzt, es wäre schöner, sich mit den Streichen des Erfolges durch die geschlossenen Heerhaufen des aristokratischen oder bürgerlichen Lagers hindurchzuhauen, als durch die Gunst einer Frau ans Ziel zu gelangen. Früher oder später mußte sein Geist leuchten und berühmt werden, wie der so vieler Männer, seiner Vorgänger, die mit der Gesellschaft fertig geworden waren, dann würden ihn die Frauen lieben! Das Beispiel Napoleons, das im neunzehnten Jahrhundert durch die Wünsche, die es mittelmäßigen Menschen einflößt, so verhängnisvoll ist, stellte sich vor Lucien hin, und er machte sich seine Berechnungen zum Vorwurf und streute sie in den Wind. So war Lucien beschaffen, er ging mit gleicher Leichtigkeit vom Bösen zum Guten und vom Guten zum Bösen. Statt der Liebe, die der Mann der Wissenschaft seiner stillen Zurückgezogenheit widmen sollte, empfand Lucien seit einem Monat eine Art Schamgefühl, wenn er den Laden sah, an dem in gelben Lettern auf grünem Grund zu lesen war:
    Apotheke von Postel
Chardon Nachfolger.
     
    Der Name seines Vaters, der so an einer Stelle geschrieben stand, an der alle Wagen vorbeifuhren, tat ihm in den Augen weh. Am Abend, wenn er seine Tür öffnete, die mit einem kleinen, recht geschmacklosen Gitterwerk geziert war, um nach Beaulieu unter die elegantesten jungen Leute der Oberstadt zu gehen und Frau von Bargeton den Arm zu reichen, hatte er das Mißverhältnis zwischen dieser Wohnung und seinem Glücke oft bitter beklagt.
    »Frau von Bargeton lieben, sie vielleicht bald besitzen und in diesem Rattennest wohnen!« sagte er sich, als er durch den Hausgang in den kleinen Hof ging, in dem mehrere Bündel gekochter Kräuter an den Mauern aufgehängt waren, in dem der Lehrling die Kochkessel des Laboratoriums scheuerte, in dem Herr Postel, seine Apothekerschürze vorgebunden und eine Retorte in der Hand, ein chemisches Präparat untersuchte, wobei er aber den Laden nicht aus den Augen verlor; denn wenn er sein Präparat noch so aufmerksam ansah, hatte er doch das Ohr bei der Klingel.
    Der Geruch von Kamillen, Pfefferminz und verschiedenen andern destillierten Pflanzen erfüllte den Hof und das bescheidene Gemach, zu dem man auf einer steilen Treppe, die statt des Geländers zwei Stricke hatte, emporstieg. Oben war nur ein Mansardenzimmer, das Lucien bewohnte.
    »Guten Tag! mein Junge«, sagte Herr Postel, der der richtige Typus des Provinzkrämers war, zu ihm. »Was macht unsere liebe Gesundheit? Ich mache ein Experiment über die Melasse, aber dein Vater wäre nötig, um herauszufinden, was ich suche. Das war ein Prachtkerl! Wenn ich sein geheimes Mittel gegen die Gicht wüßte, könnten wir heute alle beide in der Equipage fahren!«
    Es verging keine Woche, in der der Apotheker, der ebenso dumm wie gutmütig war, Lucien nicht einen Dolchstich gab, indem er von der verhängnisvollen Verschwiegenheit zu ihm sprach, die sein Vater über seine Entdeckung bewahrt hatte.
    »Ja, es ist ein großes Unglück«, antwortete Lucien kurz. Er fing an, den früheren Schüler seines Vaters furchtbar ordinär zu finden, den er doch früher oft gepriesen hatte; denn mehr als einmal hatte der wackere Postel die Witwe und die Kinder seines frühern Meisters unterstützt.
    »Was gibts denn?« fragte Herr Postel und stellte seine Retorte auf den Tisch des Laboratoriums. »Ist ein Brief für mich gekommen?«
    »Ja, einer, der wie Balsam duftet! Er ist im Kontor, auf meinem Pult.«
    Der Brief von Frau von Bargeton mitten unter den Apothekerflaschen! Lucien stürzte in den Laden.
    »Eile dich, Lucien, dein Essen wartet seit einer Stunde, es wird kalt werden«, rief eine angenehme Stimme in sanftem Ton durch ein halbgeöffnetes Fenster. Lucien hörte nicht mehr.
    »Ihr Bruder hat den Rappel, Fräulein«, sagte Postel und hob die Nase hoch.
    Dieser Junggeselle, der einige Ähnlichkeit mit einem kleinen Branntweinfäßchen hatte, auf das die Phantasie eines Malers ein plumpes, gerötetes und

Weitere Kostenlose Bücher