Verlorene Illusionen (German Edition)
der noch ungenutzt war, sie wollte für ihn »Louise« heißen. Lucien fühlte sich im siebenten Himmel der Liebe. Eines Abends war Lucien bei ihr eingetreten, als Louise gerade ein Porträt betrachtete, das sie schnell wegsteckte. Er wollte es sehen. Um die Verzweiflung eines ersten Eifersuchtsanfalles zu beruhigen, zeigte ihm Louise das Porträt des jungen Cante-Croix und erzählte nicht ohne Tränen die schmerzliche Geschichte ihrer keuschen und so grausam getöteten Liebe. Sann sie auf eine Untreue gegen ihren Toten, oder dachte sie daran, Lucien aus diesem Porträt einen Nebenbuhler zu schaffen? Lucien war zu jung, um seine Geliebte enträtseln zu können, er geriet in ehrliche Verzweiflung, denn sie eröffnete das Gefecht, in dem die Frauen in mehr oder weniger schlau verteidigte Skrupel Bresche schießen. Ihre Diskussionen über die Pflichten, die Sitte, die Religion gleichen befestigten Plätzen, die sie im Sturm genommen zu sehen wünschen. Der unschuldige Lucien brauchte diese Koketterien nicht, er hätte den Krieg ganz natürlich geführt.
»Ich werde nicht sterben, ich nicht, ich werde für Sie leben«, sagte Lucien eines Abends. Er war kühn geworden und wollte mit Herrn von Cante-Croix ein Ende machen. Dabei warf er Louise einen Blick zu, aus dem eine Leidenschaft sprach, die zu ihrem Höhepunkt gelangt war.
Sie war erschreckt über die Fortschritte, die diese neue Liebe in ihr und in ihrem Dichter gemacht hatte, und fragte ihn nach den Versen, die er ihr für die erste Seite ihres Albums versprochen hatte; er hatte mit ihrer Niederschrift immer gezögert, und so griff sie, um abzulenken, nach diesem Thema, um mit ihm zu streiten. Wie wurde ihr aber, als sie die beiden folgenden Stanzen las, die sie natürlich schöner fand als die besten von Canalis, dem Dichter der Aristokratie?
Nicht von der Muse zauberisch berührt
Wird jede Hand sein, die den Pinsel führt
Und meine Seiten schmückt;
Doch oft wird meiner schönen Herrin Stift
Mir anvertrauen, was sie schmerzlich trifft
Und was sie still beglückt.
Wenn sie mein gelbgewordenes Papier
Dereinst um die Geschicke fragt, die ihr
Die Zukunft noch verhüllt.
Dann mag die Liebe sehn, daß, treu bewahrt,
Ihr die Erinnerung an diese Fahrt
Noch sanft das Herz erfüllt.
»Habe wirklich ich Ihnen diese Verse eingegeben?« fragte sie.
Dieser Zweifel, den ihr die Koketterie einer Frau eingab, der es Vergnügen machte, mit dem Feuer zu spielen, ließ Lucien Tränen in die Augen treten; sie beruhigte ihn, indem sie zum erstenmal seine Stirn küßte. Lucien war entschieden ein großer Mann, den sie bilden wollte; es kam ihr in den Sinn, ihn Italienisch und Deutsch zu lehren und ihm bessere Manieren beizubringen; es ergaben sich daraus Vorwände, ihn immer bei sich zu haben, ihren langweiligen Hofmachern zum Trotz. Welches Interesse war wieder in ihr Leben gekommen! Sie wandte sich für ihren Dichter wieder der Musik zu, sie weihte ihn in die Welt der Musik ein, sie spielte ihm einige schöne Stücke von Beethoven und entzückte ihn; glücklich über seine Freude, sagte sie, als sie ihn fast außer sich sah, heuchlerisch zu ihm: »Ist es mit diesem Glück nicht genug?« Der arme Dichter beging die Dummheit, »Ja« zu antworten.
Endlich waren die Dinge an dem Punkt angelangt, daß Louise Lucien, eine Woche vor dem Zeitpunkt, an dem wir halten, bei sich zum Essen hatte. Herr von Bargeton war der dritte. Trotz dieser Vorsichtsmaßregel erfuhr die ganze Stadt die Sache und hielt sie für so maßlos unbegreiflich, daß sich jeder fragte, ob sie wahr sein könnte. Es gab einen schrecklichen Aufruhr. Manchem schien die Gesellschaft vor dem Untergang zustehen. Andere riefen aus: »Da sieht man, wohin die liberalen Lehren führen!«
Der eifersüchtige du Châtelet hatte nunmehr ausgekundschaftet, daß Madame Charlotte, die bei den Frauen die Wochenpflege hielt, Frau Chardon war, »die Mutter des Chateaubriand von Houmeau«, wie er sagte. Dieser Ausdruck galt für einen guten Witz. Frau von Chandour war die erste, die zu Frau von Bargeton eilte.
»Wissen Sie, liebe Naïs, wovon ganz Angoulême spricht?« sagte sie zu ihr. »Dieses kleine Dichterlein hat Madame Charlotte zur Mutter, die vor zwei Monaten meine Schwiegertochter im Wochenbett pflegte.«
»Meine Liebe,« sagte Frau von Bargeton mit ihrer königlichsten Miene, »was ist daran Außerordentliches? Ist sie nicht die Witwe eines Apothekers? Ein trauriges Geschick für ein Fräulein von Rubempré! Nehmen
Weitere Kostenlose Bücher