Verlorene Illusionen (German Edition)
von Richelieu,« erwiderte der Domherr, »und sein Wohltäter war der Marschall von Ancre. Sie sehen, Sie kennen Ihre französische Geschichte nicht. Hatte ich nicht recht, als ich Ihnen sagte, daß die Geschichte, welche man in den Gymnasien lehrt, eine dazu noch überaus zweifelhafte Sammlung von Daten und Tatsachen ist, aber nicht den geringsten Sinn hat? Was nützt es Ihnen, daß Sie wissen, daß es eine Jeanne d'Arc gegeben hat? Haben Sie je den Schluß daraus gezogen, daß, wenn Frankreich damals die Anjou-Linie der Plantagenet akzeptiert hätte, die beiden vereinigten Völker heute die Herrschaft über die Welt hätten und daß die beiden Inseln, wo die politischen Unruhen des Kontinents geschmiedet werden, zwei französische Provinzen wären? ... Oder haben Sie erforscht, mit welchen Mitteln die Medici, einfache Kaufleute, dazu gelangt sind, Großherzoge von Toskana zu werden?«
»Ein Dichter«, erwiderte Lucien, »ist in Frankreich nicht verpflichtet, so gelehrt wie ein Benediktiner zu sein.«
»Nun, junger Mann, sie sind Großherzoge geworden, wie Richelieu Minister wurde. Hätten Sie in der Geschichte die menschlichen Ursachen der Ereignisse gesucht, anstatt die Etiketten auswendig zu lernen, dann hätten Sie daraus Lehren für Ihre Lebensführung gezogen. Aus dem, was ich hier aus der Sammlung der wirklichen Tatsachen beliebig herausgegriffen habe, ergibt sich das Gesetz: Sehen Sie in den Menschen und insbesondere in den Frauen nur Werkzeuge; aber sorgen Sie dafür, daß sie es nicht merken. Verehren Sie den wie einen Gott, der höher gestellt ist als Sie und Ihnen nützlich sein kann, und verlassen Sie ihn erst, wenn er Ihre Demut sehr teuer bezahlt hat. Im Verkehr mit der Welt seien Sie gierig wie ein Jude und so niedrig wie er: tun Sie um der Macht willen alles, was er um des Geldes willen tut. Aber ebenso kümmern Sie sich um einen Menschen, der gefallen ist, nicht mehr; als ob er niemals existiert hätte. Wissen Sie, warum Sie sich so benehmen sollen? Sie wollen die Welt beherrschen, nicht wahr? Sie müssen damit anfangen, der Welt zu gehorchen und sie gut zu studieren. Die Gelehrten studieren die Bücher, die Politiker studieren die Menschen: ihre Interessen, die treibenden Ursachen ihrer Handlungen. Die Welt nun, die Gesellschaft, die Menschen als Ganzes genommen sind Fatalisten: sie beten die Tatsachen an. Wissen Sie, warum ich Ihnen diesen kleinen Geschichtsvortrag halte? Es geschieht darum, weil ich Sie für maßlos ehrgeizig halte.«
»Ja, ehrwürdiger Vater!«
»Ich habe es wohl gesehen«, fuhr der Domherr fort. »Aber in diesem Augenblick sagen Sie sich: Dieser spanische Domherr erfindet Anekdoten und plündert die Geschichte, um mir zu beweisen, daß ich zu tugendhaft bin ...«
Lucien lächelte, als er seine Gedanken so gut erraten sah.
»Nun also, junger Mann, nehmen wir Tatsachen, die ganz banal geworden sind«, sagte der Priester. »Eines Tages ist Frankreich von den Engländern fast erobert worden, der König hat nur noch eine Provinz. Aus der Tiefe des Volkes erheben sich zwei Gestalten: ein armes junges Mädchen, eben die Jeanne d'Arc, von der wir sprachen; und zweitens ein Bürgersmann namens Jacques Coeur. Die eine leiht ihren Arm und den Nimbus ihrer Jungfräulichkeit, der andere gibt sein Gold: das Königreich ist gerettet. Aber das Mädchen ist gefangen! Der König, der sie auslösen kann, läßt sie lebendig verbrennen. Den heldenhaften Bürger läßt der König von seinen Höflingen, die es nach seinem Reichtum gelüstet, der schwersten Verbrechen bezichtigen. Die Beute des Unglücklichen, der von der Justiz gehetzt, umstellt und niedergeworfen wird, bereichert fünf Adelshäuser ... Und der Vater des Erzbischofs von Bourges verläßt das Reich, um nie wieder zurückzukehren, nimmt von seinen Besitzungen in Frankreich keinen Heller mit und hat für sich weiter kein Geld, als was er den Arabern und Sarazenen in Ägypten anvertraut hatte. Sie können immer noch sagen: ›Diese Beispiele sind sehr alt, seit all diesen Undankbarkeiten hatten wir dreihundert Jahre öffentlichen Unterrichts, und die Gestalten jenes Zeitalters sind für uns Fabelwesen.‹ Nun, junger Mann, glauben Sie an den letzten Halbgott Frankreichs, an Napoleon? Einer seiner Generale stand bei ihm in Ungnade, er hat ihn nur unwillig zum Marschall gemacht, nie hat er sich seiner gern bedient. Dieser Marschall heißt Kellermann. Wissen Sie warum? Kellermann hat Frankreich und den ersten Konsul bei Marengo
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