Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Geschichte Ihrer Nation. Zu den Sitten: Frau Tallien und Frau von Beauharnais haben dasselbe Leben geführt, Napoleon heiratet die eine und macht sie zu Ihrer Kaiserin, die andere aber hat er nie empfangen wollen, obwohl sie eine Prinzessin war. Napoleon ist 1793 Sansculotte und setzt sich 1804 die eiserne Krone auf. Die wilden Liebhaber der Gleichheit, die 1792 ›Die Gleichheit oder den Tod!‹ rufen, werden 1806 die Verbündeten einer Aristokratie, die Ludwig XVIII. legitimiert hat. Im Ausland hat die Aristokratie, die heute in ihrem Faubourg Saint-Germain thront, Schlimmeres getan: sie ist Wucherer gewesen, sie war Kaufmann, sie hat kleine Pasteten gebacken, sie war Koch, Pächter und Schafhirt. In Frankreich hat also das politische Gesetz ebenso wie das Moralgesetz, hat all und jeder seinen Beginn im selben Augenblick, wo er ans Ziel gelangte, verleugnet, seine Anschauungen durch das Verhalten, oder das Verhalten durch die Anschauungen. Es gab keine Logik, weder bei der Regierung noch bei den Privatleuten. Und daher haben Sie keine Moral mehr. Heutzutage ist bei Ihnen der Erfolg die letzte Erklärung für alles, was Sie tun, was es auch sei. Die Tatsache ist also nichts mehr an sich selbst, sie existiert ausschließlich in der Idee, die die andern sich von ihr bilden. Daraus, junger Mann, ergibt sich eine zweite Regel: Habe ein schönes Äußeres! Verbirg die Kehrseite deines Lebens und zeige eine glänzende Außenseite! Die Verschwiegenheit, die Regel unseres Ordens, ist auch die Regel der Ehrgeizigen: machen Sie die Verschwiegenheit zu Ihrer Regel. Die Großen begehen fast ebenso viele Gemeinheiten wie die, denen es schlecht geht; aber sie begehen sie im Dunkel und tragen ihre Tugenden zur Schau: sie bleiben groß. Die Kleinen üben ihre Tugenden im Dunkel und lassen ihr Elend und ihre Kläglichkeit alle Welt sehen: sie werden verachtet. Sie haben Ihre Größe verborgen und haben Ihre Wunden gezeigt. Sie hatten vor aller Öffentlichkeit eine Schauspielerin zur Geliebten, Sie haben bei ihr und mit ihr gelebt; man konnte Ihnen in nichts einen Vorwurf machen, jeder fand, daß Sie beide völlige Freiheit hatten; aber Sie boten den Anschauungen der Welt Trotz, und Sie genossen nicht das Ansehen, das die Welt denen zukommen läßt, die ihren Gesetzen gehorchen. Hätten Sie Coralie diesem Herrn Camusot gelassen, hätten Sie Ihre Beziehungen zu ihr verhehlt, dann hätten Sie Frau von Bargeton geheiratet, wären Präfekt von Angoulême und Marquis von Rubempré. Sie müssen Ihre Lebensführung umkehren, Sie müssen Ihre Schönheit, Ihre Anmut, Ihren Geist, Ihre Poesie nach außen wenden. Wenn Sie sich kleine Gemeinheiten erlauben, tun Sie es zwischen den vier Wänden. Dann laden Sie nicht mehr die Schuld auf sich, Flecken auf die Dekorationen des großen Theaters zu bringen, das die Welt heißt. Napoleon nennt das: seine schmutzige Wasche im Hause waschen. Aus der zweiten Regel ergibt sich die Anmerkung: Alles liegt an der Form. Verstehen Sie recht, was ich die Form nenne! Es gibt ungebildete Leute, die, von der Not getrieben, einem andern irgendeinen Betrag gewaltsam wegnehmen; man nennt sie Verbrecher, und sie machen mit der Justiz Bekanntschaft. Ein armes Genie entdeckt ein Geheimnis, dessen Ausbeutung ein Vermögen bedeutet, Sie leihen ihm dreitausend Franken – so wie die Cointet, die Ihre dreitausend Franken in die Finger bekamen und Ihren Schwager jetzt plündern werden –, Sie foltern ihn auf eine Weise, daß er Ihnen sein Geheimnis ganz oder teilweise abtreten muß, Sie haben nur mit Ihrem Gewissen zu tun, und Ihr Gewissen schleppt Sie nicht vor das Kriminalgericht. Die Feinde der Gesellschaftsordnung nutzen diesen Gegensatz aus, um gegen die Justiz zu kläffen und im Namen des Volkes darüber zu toben, daß man einen, der nachts in eine geschlossene Wohnung einbricht, auf die Galeeren schickt, während man einen Menschen, der durch betrügerischen Bankrott ganze Familien zugrunde richtet, kaum für ein paar Monate ins Gefängnis steckt; aber diese Heuchler wissen ganz gut, daß die Richter, wenn sie den Dieb verurteilen, die Schranke zwischen den Armen und den Reichen schützen, die nicht umgeworfen werden darf, weil sonst das Ende der Gesellschaftsordnung gekommen wäre; während der Bankrottierer, der geschickte Erbschleicher, der Bankier, der ein Geschäft zu seinem Vorteil erledigt und dabei über Leichen geht, nur Verschiebungen der Vermögen hervorbringen. So, mein Sohn, ist die Gesellschaft

Weitere Kostenlose Bücher