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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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durch einen kühnen Angriff, der inmitten von Blut und Feuer bejubelt wurde, gerettet. In dem Bulletin war von diesem heldenhaften Angriff nicht mit einem Wort die Rede. Die Ursache von Napoleons Kälte gegen Kellermann ist auch die Ursache der Ungnade von Foucher und dem Fürsten von Talleyrand: es ist die Undankbarkeit des Königs Karl VII., Richelieus, die Undankbarkeit...«
    »Aber, ehrwürdiger Vater, vorausgesetzt, daß Sie mir das Leben retten und daß Sie mein Glück begründen,« sagte Lucien, »machen Sie mir mit diesen Gründen die Dankbarkeit sehr leicht.«
    »Kleiner Schlingel,« sagte der Abbé lächelnd und zog Lucien mit einer fast königlichen Vertraulichkeit am Ohr, »wenn Sie undankbar gegen mich wären, dann wären Sie ein starker Mann, und ich beugte mich vor Ihnen; aber Sie sind noch nicht so weit, denn Sie sind erst ein Schüler und wollten zu früh Meister werden. Das ist ein Fehler der Franzosen in unserer Zeit. Sie reichen Ihre Entlassung ein, weil Sie nicht die Epauletten bekommen können, die Sie wünschen ... Aber haben Sie all Ihr Wollen, all Ihr Handeln einer Idee gewidmet?«
    »Ach nein«, sagte Lucien.
    »Sie waren, was die Engländer › inconsistent‹ nennen«, fuhr der Domherr lächelnd fort.
    »Was liegt daran, was ich gewesen bin, wenn ich nichts mehr werden kann«, antwortete Lucien.
    »Wenn hinter all Ihren schönen Eigenschaften eine Kraft steht, die ›semper virens‹ ist,« sagte der Priester, der wohl gern zeigte, daß er etwas Lateinisch konnte, »dann wird Ihnen nichts in der Welt widerstehen. Ich liebe Sie jetzt schon ...«
    Lucien lächelte mit einer ungläubigen Miene.
    »Ja,« fuhr der Unbekannte in Erwiderung auf Luciens Lächeln fort, »Sie interessieren mich, wie wenn Sie mein Sohn wären, und ich kann zu Ihnen frei heraus reden, wie Sie zu mir gesprochen haben. Wissen Sie, was mir an Ihnen gefällt? Sie haben in sich selbst reinen Tisch gemacht, und Sie können daher jetzt einen Moralunterrlcht empfangen, wie er nirgends erteilt wird; denn wenn die Menschen in einer gewissen Anzahl beisammen sind, sind sie noch heuchlerischer, als wenn ihr Interesse sie zwingt, Komödie zu spielen. So verbringt man einen guten Teil seines Lebens damit, auszujäten, was man in der Jugend in seinem Herzen hat wachsen lassen. Diese Operation nennt man: Erfahrungen machen.«
    Lucien hörte dem Priester zu und sagte sich im stillen: ›Das ist so ein alter Politiker, dem es Vergnügen macht, sich auf der Reise zu amüsieren. Er gefällt sich darin, einen armen Kerl, den er am Rande des Selbstmords trifft, umzustimmen, und wenn er mit seinem Spaß zu Ende ist, wird er mich laufen lassen; aber er versteht sich gut auf die Paradoxie, und er scheint mir ebenso stark wie Blondet oder Lousteau.‹
    Trotz dieser klugen Überlegung bohrte sich die Verderbnis, mit der es der Diplomat gegen ihn versuchte, tief in Luciens Seele ein, die für sie gut vorbereitet war, und wirkte in ihr um so verheerender, als sie sich auf berühmte Beispiele stützte. Lucien war von dem Reiz dieser zynischen Unterhaltung gefesselt und klammerte sich um so williger ans Leben an, als er sich von einem starken Arm aus dem Schlunde seines Selbstmords auf die Oberfläche gehoben fühlte.
    Darüber war der Priester offenbar vergnügt. Und so hatte er denn auch von Zeit zu Zeit seine historischen Sarkasmen mit einem boshaften Lächeln begleitet.
    »Wenn Ihre Art, die Moral zu behandeln, Ähnlichkeit mit Ihrer Geschichtsauffassung hat,« sagte Lucien, »wäre ich neugierig, zu erfahren, was in diesem Augenblick die Triebfeder Ihrer scheinbaren Barmherzigkeit ist.«
    »Dieses, junger Mann, ist der letzte Punkt meiner Predigt, und Sie müssen mir gestatten, ihn mir aufzusparen; dann verlassen wir uns heute noch nicht«, antwortete er mit der Schlauheit eines Priesters, der sieht, daß sein Plan gelingt. »Gut also, predigen Sie mir Moral«, versetzte Lucien, der sich innerlich sagte: ›Ich will ihn zum besten haben.‹ »Die Moral, junger Mann, beginnt mit dem Gesetz«, fing der Priester an. »Wenn es überall Religion gäbe, wären die Gesetze unnötig; die religiösen Völker haben wenig Gesetze. Über dem bürgerlichen Gesetz steht das politische Gesetz. Wollen Sie nun wissen, was für jemanden, der ein Politiker ist, auf der Stirn Ihres neunzehnten Jahrhunderts geschrieben steht? Die Franzosen haben im Jahre l793 die Souveränität des Volkes erfunden, die in einem absoluten Kaiser gegipfelt hat. Soviel für die

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