Verlorene Illusionen (German Edition)
einer kleinen Fußwanderung den Schlaf abzuschütteln, der am Morgen alle Reisende befällt, damit ich Ihnen Trost bringen und so meine Aufgabe hienieden erfüllen könnte? Und was für einen großen Kummer können Sie in Ihren Jahren haben?«
»Ihr Trost, ehrwürdiger Vater, wäre sehr unnütz: Sie sind Spanier, ich bin Franzose; Sie glauben an die Gebote der Kirche, ich bin Atheist ...«
» Santa Virgen del Pilar! Sie sind Atheist!« rief der Priester und legte mit mütterlicher Zärtlichkeit seinen Arm auf den Luciens. »Wahrhaftig! das ist eine der Sehenswürdigkeiten, die ich in Paris aufsuchen wollte. Wir in Spanien glauben nicht an die Atheisten. Nur in Frankreich kann man mit neunzehn Jahren solche Anschauungen haben.«
»Oh! ich bin ein völliger Atheist; ich glaube weder an Gott noch an die Gesellschaft noch an das Glück. Sehen Sie mich wohl an; in ein paar Stunden bin ich nicht mehr ... Diese Sonne ist die letzte, die ich sehe!« sagte Lucien pathetisch und wies gen Himmel.
»Wie! was haben Sie getan, um sterben zu müssen? Wer hat Sie zum Tode verurteilt?«
»Das oberste Gericht, ich selbst!«
»Kind,« rief der Priester, »haben Sie einen Menschen getötet? Wartet das Schafott auf Sie? Überlegen wir ein bißchen. Wenn Sie, wie Sie es nennen, ins Nichts zurückkehren wollen, dann ist Ihnen wohl alles auf Erden gleichgültig?«
Lucien nickte zum Zeichen der Zustimmung.
»Dann können Sie mir also erzählen, was Sie quält? Es handelt sich gewiß um eine Liebschaft,die Ihnen Kummer macht?«
Lucien zuckte mit bezeichnender Gebärde die Achseln.
»Sie wollen sich töten, um der Schande zu entgehen, oder weil Sie am Leben verzweifeln? Schön. Sie können sich ebensogut in Poitiers töten wie in Angoulême, und in Tours ebensogut wie in Poitiers. Der Triebsand der Loire gibt seine Opfer nicht wieder her ...«
»Nein, ehrwürdiger Vater,« antwortete Lucien, »ich habe schon meinen Platz. Vor zwanzig Tagen habe ich das entzückendste Ufer gesehen, von dem aus ein Mensch, der dieser Welt überdrüssig ist, in die andere Welt fahren kann ...«
»Eine andere Welt? Sie sind kein Atheist.«
»Oh! was ich mit der andern Welt meine, ist meine künftige Verwandlung in ein tierisches oder pflanzliches Leben ...«
»Haben Sie eine unheilbare Krankheit?«
»Ja, ehrwürdiger Vater.«
»Ah, da haben wirs,« rief der Priester, »und welche?«
»Die Armut.«
Der Priester sah Lucien lächelnd an und sagte zu ihm überaus anmutig und mit einem fast ironischen Lächeln:
»Der Diamant kennt seinen Wert nicht.«
»Nur ein Priester kann einem armen Menschen, der in den Tod gehen will, noch schmeicheln!« rief Lucien.
»Sie werden nicht sterben«, sagte der Priester in entschiedenem Tone.
»Ich habe wohl sagen hören,« versetzte Lucien, »daß man die Menschen auf der Landstraße ausgeplündert hat; ich wußte nicht, daß man sie reicher machte.«
»Sie sollen es erfahren«, erwiderte der Priester, nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Wagen noch weit genug weg war, daß sie noch einige Schritte allein gehen konnten. »Hören Sie mich,« sagte der Priester und kaute an seiner Zigarre, »Ihre Armut wäre kein Grund, zu sterben. Ich brauche einen Sekretär, der meine ist vor kurzem in Barcelona gestorben. Ich bin in der Lage, in der der Baron von Görtz war, der berühmte Minister Karls XII., der, als er nach Schweden reiste, wie ich nach Paris reise, in einer kleinen Stadt ohne Sekretär ankam. Der Baron traf den Sohn eines Goldschmieds, der durch eine Schönheit sich auszeichnete, die der Ihrigen gewiß nicht gleichkam ... Der Baron findet in dem jungen Menschen Intelligenz, wie ich finde, daß Ihnen die Poesie auf der Stirn geschrieben steht; er nimmt ihn in seinen Wagen, wie ich Sie in meinen nehmen werde; und aus diesem jungen Menschen, der bisher dazu verdammt gewesen war, in einer kleinen Provinzstadt, wie Angoulême ist, Bestecke zu polieren und Schmucksachen herzustellen, macht er seinen Günstling, wie Sie der meine sein sollen. In Stockholm angelangt, setzt er seinen Sekretär an die Arbeit und gibt ihm furchtbar viel zu tun. Der junge Sekretär verbringt die Nächte mit Schreiben; und wie alle, die stark arbeiten, nimmt er eine Gewohnheit an: er fängt an, Papier zu kauen. Der verstorbene Herr von Malesherbes hatte die Gewohnheit, den Leuten brennendes Papier unter die Nase zu halten, und er tat das, nebenbei bemerkt, auch mit einer gewissen Persönlichkeit, deren Prozeß von seinem
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