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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ein Herzogtum Kurland, und in Ermangelung des Herzogtums werden wir ganz sicher die Herzogin finden.«
    Der Spanier unterstützte Lucien und zwang ihn buchstäblich, in seinen Wagen zu steigen, worauf der Postillion den Schlag zuwarf.
    »Jetzt reden Sie, ich höre zu«, sagte der Domherr von Toledo zu dem verblüfften Lucien. »Ich bin ein alter Priester, dem Sie ohne Gefahr alles sagen können. Sie haben ohne Zweifel noch nichts aufgegessen als Ihr väterliches Erbe oder das Geld der Frau Mama. Wir sind heimlich durchgebrannt und haben Ehre bis in die Spitzen unserer reizenden kleinen Stiefelchen ... Also los, beichten Sie keck, es wird genau so sein, wie wenn Sie mit sich selbst sprechen.«
    Lucien befand sich in der Lage jenes Fischers aus – ich weiß nicht mehr welchem arabischen Märchen, der sich im Meere ertränken will und in unterseeische Länder fällt und dort König wird. Der spanische Priester schien so wahrhaft liebevoll, daß der Dichter nicht zögerte, ihm sein Herz zu eröffnen: er erzählte ihm also zwischen Angoulême und Ruffec sein ganzes Leben, ließ keine seiner Verfehlungen aus und schloß mit dem letzten Unheil, an dem er schuld war. In dem Augenblick, wo er mit diesem Bericht fertig war, den er um so poetischer vorbrachte, als er ihn seit vierzehn Tagen schon zum drittenmal machte, fuhr der Wagen an der Stelle vorbei, wo sich an der Straße, in der Nähe von Ruffec, die Besitzung der Familie Rastignac befindet, bei deren Namen, als Lucien ihn zum erstenmal nannte, der Spanier eine Bewegung gemacht hatte.
    »Von hier«, sagte Lucien, »ist der junge Rastignac ausgegangen, der sicher weniger taugt als ich, der aber mehr Glück gehabt hat.«
    »Ah!«
    »Ja, dieser armselige Edelhof ist das Haus seines Vaters. Er ist, wie ich Ihnen sagte, der Geliebte der Frau von Nucingen geworden, der Frau des berühmten Bankiers. Ich habe mich der Poesie überlassen; er war geschickter und hat sich ans Positive gehalten.«
    Der Priester ließ seine Kalesche halten, er wollte aus Neugier die kleine Allee hinaufgehen, die von der Straße zu dem Hause führte, und betrachtete alles mit mehr Interesse, als Lucien von einem spanischen Priester erwartet hatte.
    »Sie kennen also die Rastignac?« fragte ihn Lucien.
    »Ich kenne ganz Paris«, sagte der Spanier und stieg wieder in seinen Wagen. »Also weil Ihnen zehn- oder zwölftausend Franken fehlten, wollten Sie sich töten? Sie sind ein Kind, Sie kennen weder die Menschen noch die Dinge. Ein Schicksal ist so viel wert, als der Mensch es schätzt; und Sie veranschlagen Ihre Zukunft nur auf zwölftausend Franken. Schön, ich kaufe Sie sofort. Was die Gefangensetzung Ihres Schwagers angeht, so ist das eine Lappalie. Wenn der gute Herr Séchard eine Entdeckung gemacht hat, so wird er reich werden. Wer reich ist, ist nie in Schuldhaft gewesen. Sie scheinen mir nicht stark in der Geschichte zu sein. Es gibt zweierlei Geschichte: die offizielle, verlogene Geschichte, die man lehrt, die Geschichte ad usum delphini , dann die geheime Geschichte, die die wirklichen Zusammenhänge der Geschehnisse berichtet, eine schmachvolle Geschichte. Lassen Sie mich Ihnen in Kürze ein anderes Histörchen erzählen, das Sie nicht kennen: Ein ehrgeiziger junger Priester will in den öffentlichen Dienst treten, er kriecht vor dem Günstling, dem Günstling einer Königin; der Günstling interessiert sich für den Priester und verschafft ihm den Rang eines Ministers und Sitz im Staatsrat. Eines Abends schreibt einer der Menschen, die einen Dienst zu erweisen glauben – erweisen Sie nie einen Dienst, den man nicht von Ihnen begehrt! –, dem jungen Ehrgeizigen, das Leben seines Wohltäters sei bedroht. Der König ist wütend geworden, daß er einen Herrn hat; morgen soll der Günstling, wenn er sich in den Palast begibt, getötet werden. Nun, junger Mann, was hätten Sie nach Empfang dieses Briefes getan?«
    »Ich hätte auf der Stelle meinen Wohltäter gewarnt!« rief Lucien lebhaft.
    »Sie sind noch ganz das Kind, das aus der Erzählung von Ihrem Leben spricht«, erwiderte der Priester. »Unser Mann sagte sich: ›Wenn der König bis zum Verbrechen geht, ist mein Wohltäter verloren; ich muß diesen Brief zu spät bekommen haben!‹ Und er schlief bis zu der Stunde, wo man den Günstling getötet hatte ...«
    »Das ist ein Ungeheuer«, sagte Lucien, der den Priester im Verdacht hatte, daß er ihn auf die Probe stellte.
    »Alle großen Menschen sind Ungeheuer; dieser war der Kardinal

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