Verlorene Illusionen (German Edition)
gezwungen, ihrerseits zu unterscheiden, was Sie für sich ebenfalls auseinanderhalten sollen. Die große Hauptsache ist, sich der ganzen Gesellschaft gleichzustellen. Napoleon, Richelieu, die Medici haben sich ebenso hoch wie ihr Jahrhundert eingeschätzt. Sie schätzen sich auf zwölftausend Franken!... Ihre Gesellschaft betet nicht mehr den wahrhaften Gott an, sondern das goldene Kalb. So ist die Religion Ihrer Charte beschaffen, die in der Politik nur noch das Eigentum berücksichtigt. Heißt das nicht, allen Untertanen sagen: ›Seht zu, daß ihr reich werdet!‹ Wenn Sie auf gesetzlichem Wege ein Vermögen erworben haben, ein reicher Mann und Marquis von Rubempré sind, dann können Sie sich den Luxus der Ehre erlauben. Sie können dann so viel Herzensgüte an den Tag legen, daß niemand wagen wird, Sie zu beschuldigen, es hätte Ihnen je daran gefehlt – wenn es Ihnen auch daran fehlen sollte, während Sie noch auf dem Wege zu Ihrem Vermögen sind, was ich Ihnen aber nicht raten möchte.« Dabei ergriff der Priester Luciens Hand und tätschelte sie. »Was müssen Sie sich also in Ihren schönen Kopf setzen? Lediglich den folgenden Vorsatz: Man setze sich ein glänzendes Ziel und verberge die Mittel, mit denen man es erreicht; verberge seinen Weg. Sie haben wie ein Kind gehandelt. Seien Sie ein Mann, seien Sie ein Jäger, stellen Sie sich auf den Anstand, wählen Sie sich in der Welt von Paris einen Hinterhalt, warten Sie auf eine Beute und einen Zufall, wahren Sie weder Ihre Person noch was man die Würde nennt; denn wir gehorchen alle irgendeiner Sache, einem Laster, einer Notwendigkeit; aber wahren Sie das höchste Gesetz: das Geheimnis.«
»Sie erschrecken mich!« rief Lucien. »Das klingt mir wie die Theorie des Straßenraubes.«
»Sie haben recht,« sagte der Domherr, »aber sie stammt nicht von mir. Nach dieser Regel haben sich alle gerichtet, die emporgekommen sind, das Haus Osterreich und das Haus Frankreich. Sie haben nichts, Sie sind in der Lage der Medici, Richelieus, Napoleons, im Beginn der Laufbahn Ihres Ehrgeizes. Diese Leute, kleiner Freund, haben ihre Zukunft auf den Preis der Undankbarkeit, des Verrats und der heftigsten Widersprüche eingeschätzt. Man muß alles wagen, um alles zu bekommen. Überlegen wir: Wenn Sie Hasard spielen, wenn Sie sich an den Bouillotte-Tisch setzen, diskutieren Sie über die Bedingungen? Die Regeln sind gegeben, Sie akzeptieren sie.«
»Sieh mal,« dachte Lucien, »er kennt die Bouillotte.«
»Wie benehmen Sie sich bei der Bouillotte?« fragte der Priester, »üben Sie da die schönste der Tugenden, die Aufrichtigkeit? Sie halten nicht nur Ihr Spiel verborgen, sondern Sie suchen auch, wenn Sie sicher sind zu gewinnen, den Glauben zu erwecken, daß Sie alles verlieren werden. Kurz, Sie heucheln, nicht wahr? Sie lügen, fünf Louisdor zu gewinnen! Was würden Sie zu einem Spieler sagen, der so großmütig wäre, dem andern mitzuteilen, er hätte drei Karten, die mit dem Umschlag gleich sind? Der Ehrgeizige aber, der den Vorschriften der Tugend gemäß in einem Wettkampf kämpfen will, während sich seine Gegner ihrer entschlagen, ist ein Kind, zu dem die alten Politiker dasselbe sagen, was die Spieler zu einem sagen, der seine Trümpfe nicht ausnutzt: ›Lieber Herr, spielen Sie nie Bouillotte.‹ Haben Sie die Spielregeln des Ehrgeizes gemacht? Warum habe ich Ihnen gesagt, Sie müßten sich der Gesellschaft gleichsetzen? Weil heutzutage, junger Mann, die Gesellschaft sich unmerklich so viel Rechte über die Individuen angemaßt hat, daß das Individuum sich genötigt sieht, die Gesellschaft zu bekämpfen. Es gibt keine Gesetze mehr, es gibt nur noch Sitten, das heißt: äußeres Getue, immer die Form.«
Lucien hatte eine Geste des Erstaunens.
»Ah! mein Kind,« sagte der Priester, der fürchtete, Luciens Unschuld in Empörung gebracht zu haben, »erwarten Sie denn in einem Abbé, der alle schlimmen Streiche der Konterdiplomatie auszuführen hat – ich bin der Vermittler zwischen Ferdinand VII. und Ludwig XVIII., zwei großen ... Königen, die alle beide die Krone sehr starken ... Kombinationen verdanken –, glauben Sie in mir den Erzengel Gabriel zu finden? Ich glaube an Gott, aber ich glaube noch mehr an unsern Orden, und unser Orden glaubt nur an die weltliche Macht. Um die weltliche Macht sehr stark zu machen, stützt unser Orden die apostolische katholische und römische Kirche, das heißt das Ganze der Gefühle, die das Volk im Gehorsam halten. Wir
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