Verlorene Illusionen (German Edition)
herum; er stand auf und setzte sich wieder hin, wenn er auf eine Anrede antwortete; er schien immer geneigt, beim Servieren helfen zu wollen; er war der Reihe nach unterwürfig, unruhig, düster, er hatte es eilig, über jeden Scherz zu lachen, er hörte angestrengt zu wie ein Untergebener, und manchmal nahm er eine tückische Miene an, wenn er glaubte, man mache sich über ihn lustig. Mehrmals am Abend versuchte er, da ihm seine Denkschrift im Kopfe herumging, von Seidenwürmern zu sprechen; aber zum Unglück war Herr von Séverac auf Herrn von Bartas gestoßen, der ihm zur Antwort von Musik sprach, und auf Herrn von Saintot, der ihm Cicero zitierte. Nach einigen Stunden hatte sich der arme Amtsvorsteher schließlich an eine Witwe und ihre Tochter herangemacht, Frau und Fräulein du Brossard, die nicht die zwei uninteressantesten Personen in dieser Gesellschaft waren. Ein einziges Wort sagt alles: sie waren ebenso arm, wie sie adlig waren. Ihre Kleidung verriet so sehr den peinlichen Versuch, vornehm und geschmückt zu erscheinen, daß sie die verschämte Armut offenbarte. Frau du Brossard rühmte in sehr ungeschickter Weise und bei jeder Gelegenheit ihre Tochter, ein großes und starkes siebenundzwanzigjähriges Mädchen, das für eine gute Klavierspielerin galt. Waren heiratsfähige Männer da, so sollte ihre Tochter alle ihre verschiedenen Neigungen teilen, und in ihrem Wunsche, ihre liebe Kamilla unterzubringen, hatte sie an einem und demselben Abend behauptet, Kamilla liebe das unruhige Leben der Garnisonen und das stille Leben der Landwirte, die ihre Güter bestellen. Alle beide hatten die gezierte, sauersüße Würde der Menschen, mit denen Mitleid zu haben alle Welt sich zum Vergnügen macht, für die man sich aus Egoismus interessiert und die den leeren Trostworten auf den Grund gekommen sind, mit denen die Welt mit Vergnügen die Unglücklichen abspeist. Herr von Séverac war neunundfünfzig Jahre alt und kinderloser Witwer; Mutter und Tochter hörten also mit andächtigem Entzücken den eingehenden Schilderungen zu, die er von seiner Seidenzucht gab.
»Meine Tochter hat immer die Tiere geliebt«, sagte die Mutter. »Und da auch die Seide, die diese Tierchen machen, die Frauen interessiert, möchte ich Sie um die Erlaubnis bitten, daß wir nach Séverac kommen dürfen, damit ich meiner Kamilla zeige, wie sie gewonnen wird. Kamilla hat so viel Verstand, daß sie sofort alles begreifen wird, was Sie ihr sagen. Hat sie doch sogar einmal das umgekehrte Verhältnis des Quadrats der Entfernung verstanden!«
Dieser Satz machte der Unterhaltung zwischen Herrn von Séverac und Frau du Brossard nach Luciens Vorlesung ein glorreiches Ende.
Einige gewohnte Gäste des Hauses mischten sich ungezwungen in die Gesellschaft, und ebenso zwei oder drei schüchterne und schweigsame, lächerlich aufgeputzte Muttersöhnchen, die glücklich waren, zu diesem literarischen Abend eingeladen worden zu sein und deren Kühnster sich so weit aufschwang, daß er sich viel mit Fräulein de la Haye unterhielt. Alle Damen setzten sich feierlich in einem Kreise herum, hinter dem die Männer standen. Diese Versammlung bizarrer Personen mit seltsamen Kostümen und komischen Gesichtern kam Lucien sehr imponierend vor. Sein Herz schlug heftig, als er sah, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. So kühn er auch war, bestand er doch diese erste Probe nicht leicht, trotz den Ermutigungen seiner Geliebten, die beim Empfang der Berühmtheiten des Angoumois die ganze Pracht ihrer Verbeugungen und ihre gezierteste Grazie entfaltete. Das Unbehagen, dessen Beute er war, wurde durch einen Umstand verstärkt, der leicht vorauszusehen war, der aber einen jungen Mann, der noch wenig mit der Taktik der Welt vertraut ist, scheu machen mußte. Lucien, der ganz Auge und Ohr war, hörte sich von Louise, Herrn von Bargeton, dem Bischof und einigen Freundlichen, die der Herrin des Hauses einen Gefallen tun wollten, Herr von Rubempré nennen, aber Herr Chardon von der Mehrheit dieses gefürchteten Publikums. Durch die forschenden Blicke der Neugierigen eingeschüchtert, hörte er sie schon seinen bürgerlichen Namen aussprechen, wenn sie nur ihre Lippen bewegten, er hörte die Urteile, die man im voraus mit der in der Provinz gewohnten Freiheit über ihn herumtragen würde, die oft der Unhöflichkeit sehr nahe kommt. Diese unerwarteten fortgesetzten Nadelstiche versetzten ihn in eine noch unbehaglichere Stimmung. Er wartete ungeduldig auf den Augenblick, wo er
Weitere Kostenlose Bücher