Verlorene Illusionen (German Edition)
starke Sachen erwartet hatte.
»Fragen Sie mich lieber nicht, meine Liebe: meine Augen schließen sich, sowie ich vorlesen höre.«
»Ich hoffe,« sagte Francis, »Naïs wird uns nicht oft Verse zu Abend geben. Wenn ich nach dem Essen vorlesen höre, stört die Aufmerksamkeit, die ich anwenden muß, meine Verdauung.«
»Armes Tierchen,« sagte Zéphirine mit leiser Stimme, »trink ein Glas Zuckerwasser.«
»Sehr gut deklamiert,« sagte Alexander, »aber Whist ist mir lieber.«
Nach dieser Bemerkung, die infolge der englischen Bedeutung des Worts für witzig galt, behaupteten einige Spielerinnen, der Vorleser müsse Ruhe haben. Unter diesem Vorwand machten sich einige Paare heimlich in das Boudoir davon. Lucien, den die reizende Laura von Rastignac und der Bischof baten, weiterzulesen, erweckte dank dem konterrevolutionären Schwung der Jamben die Aufmerksamkeit wieder. Einige Personen, die von der Wärme des Vortrags hingerissen wurden, klatschten Beifall, ohne die Verse zu verstehen. Diese Art Menschen sind durch lautes Reden zu beeinflussen, wie die groben Gaumen durch starke Getränke gereizt werden.
Später, als man Gefrorenes reichte, veranlaßte Zéphirine Francis, in das Buch zu sehen, und teilte ihrer Nachbarin Amélie dann mit, die Verse, die Lucien gelesen habe, seien gedruckt.
»Aber«, antwortete Amélie, der man das Vergnügen über den Einfall ansah, »das ist sehr einfach. Herr von Rubempré arbeitet bei einem Drucker. Das ist gerade so,« sagte sie und warf dabei Lolotte einen Blick zu, »wie wenn eine hübsche Frau ihre Kleider selbst macht.«
»Er hat seine Gedichte selbst gedruckt«, sagten die Frauen untereinander.
»Warum nennt er sich denn von Rubempré?« fragte Jacques. »Wenn so ein Adliger Handwerksarbeit verrichtet, muß er seinen Namen aufgeben.«
»Er hat tatsächlich den seinen aufgegeben, der bürgerlich war,« sagte Zizine, »und hat dafür den seiner Mutter angenommen, die von Adel ist.«
»Da seine Verse – in der Provinz sagt man Versche – gedruckt sind, können wir sie selber lesen«, sagte Astolf.
Dieser dumme Einfall machte die Sache noch verwickelter, bis Sixtus du Châtelet sich herabließ, dieser unwissenden Gesellschaft mitzuteilen, die Ankündigung sei keine vorsichtige Redewendung gewesen, und die schönen Gedichte seien in der Tat von einem royalistischen Bruder des Revolutionärs Marie Joseph Chénier verfaßt. Die Gesellschaft von Angoulême, mit Ausnahme des Bischofs, der Frau von Rastignac und ihrer beiden Töchter, die von dieser großen Poesie ergriffen waren, hielten sich für mystifiziert und ärgerten sich über diesen Hineinfall. Ein dumpfes Murren erhob sich, aber Lucien hörte es nicht. Er war von dieser verhaßten Welt durch den Rausch, den eine innere Melodie in ihm erzeugte, weit abgeschieden und bemühte sich, diese Melodie zu wiederholen. Er sah die Gestalten nur wie durch einen Nebel hindurch. Er las die düstere Elegie über den Selbstmord, jene in den alten Formen, in denen eine göttliche Melancholie lebt, endlich die, in der der Vers steht: »Dein Lied ist süß, es klingt mir oft im Ohr.« Endlich schloß er mit der sanften Idylle, die den Namen »Neère« führt.
Frau von Bargeton war in eine köstliche Träumerei versunken. Sie saß da, eine Hand in ihren Locken, die sie, ohne es zu gewahren, durcheinandergebracht hatte, die andere herunterhängend, mit blicklosen Augen, allein inmitten ihres Salons. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich in die Sphäre versetzt, die ihre eigene war. Nun kann man verstehen, wie gräßlich sie von Amélie herausgerissen wurde, die den Auftrag übernommen hatte, ihr die Wünsche des Publikums mitzuteilen.
»Naïs, wir waren gekommen, um die Gedichte Herrn Chardons zu hören, und Sie geben uns gedruckte Versche. Obwohl diese Stücke sehr hübsch sind, würden die Damen aus Heimatsliebe doch das einheimische Gewächs vorziehen.«
»Finden Sie nicht, daß die französische Sprache sich schlecht zur Poesie eignet?« fragte Wolf den Steuerdirektor. »Ich finde die Prosa Ciceros tausendmal poetischer.«
»Die wahre französische Poesie ist die leichte Gattung, das Chanson«, antwortete Châtelet.
»Das Chanson beweist, daß unsere Sprache sehr musikalisch ist«, sagte Adrian.
»Ich wäre neugierig auf die Versche, die Naïs erobert haben,« sagte Zéphirine; »aber nach der Art, wie sie den Wunsch Amélies aufnimmt, scheint sie nicht geneigt, uns davon eine Probe zu geben.«
»Sie ist es sich
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