Verlorene Illusionen (German Edition)
während sie sich untereinander Lolotte, Adrian, Astolf, Lili, Fifine nannten. Seine Verlegenheit stieg aufs äußerste, als er Lili für einen Männernamen gehalten und den brutalen Herrn von Senonches Herr Lili angeredet hatte. Der Nimrod unterbrach Lucien mit einem erstaunten »Herr Lulu?« und Frau von Bargeton wurde rot bis über die Ohren.
»Man muß sehr verblendet sein, um diesen kleinen Bürgersmann hierher und in unsere Gesellschaft zu bringen!« sagte Herr von Senonches halblaut.
»Frau Marquise,« fragte Zéphirine Frau von Pimentel leise, aber so, daß es gehört wurde, »finden Sie nicht eine große Ähnlichkeit zwischen Herrn Chardon und Herrn von Cante-Croix?«
»Eine ideale Ähnlichkeit«, antwortete Frau von Pimentel lächelnd.
»Der Ruhm birgt eine Kraft der Verführung, die man nicht zu leugnen braucht«, sagte Frau von Bargeton zur Marquise. »Es gibt Frauen, die die Größe lieben, wie andere die Kleinheit«, fügte sie hinzu und richtete dabei ihre Augen auf Francis.
Zéphirine verstand nicht, denn sie fand ihren Konsul sehr groß; aber die Marquise schlug sich auf Naïs' Seite und fing zu lachen an.
»Sie sind sehr glücklich,« sagte Herr von Pimentel zu Lucien und machte sich dabei ein Vergnügen, ihn zur Abwechslung von Rubempré zu nennen, nachdem er vorher Herr Chardon zu ihm gesagt hatte; »Sie können sich niemals langweilen.«
»Arbeiten Sie schnell?« fragte ihn Lolotte mit einem Gesicht, mit dem sie einen Tischler gefragt hätte: »Brauchen Sie lange dazu, einen Kasten zu machen?«
Lucien war von diesem Keulenschlag wie betäubt; aber er hob den Kopf wieder hoch, als er Frau von Bargeton lächelnd antworten hörte:
»Meine Liebe, die Poesie wächst im Kopf des Herrn von Rubempré nicht wie das Unkraut in unsern Höfen.«
»Meine Gnädigste,« sagte der Bischof zu Lolotte, »wir können nicht genug Achtung vor den edlen Geistern haben, denen Gott einen seiner Strahlen geschenkt hat. Ja, die Poesie ist eine heilige Sache. Wer Poesie sagt, sagt Leiden. Wie viele stille Nächte haben die Strophen nicht gekostet, die Sie bewundern! Wir wollen den Dichter, der fast immer ein unglückliches Leben führt und für den Gott ohne Zweifel im Himmel unter seinen Propheten einen Platz bereithält, liebevoll aufnehmen. Dieser junge Mann ist ein Dichter,« fügte er hinzu und legte seine Hand auf Luciens Kopf, »sehen Sie nicht etwas wie ein Verhängnis auf dieser schönen Stirn?«
Lucien war glücklich, so edel verteidigt zu werden, und warf dem Bischof einen liebreichen Blick zu. Er ahnte nicht, daß der würdige Prälat sein Henker werden sollte.
Frau von Bargeton warf auf den feindlichen Kreis triumphierende Blicke, die sich wie ebenso viele Dolche in die Herzen ihrer Nebenbuhlerinnen senkten, deren Wut sich verdoppelte.
»Ach, Monseigneur,« antwortete der Dichter und hoffte, diese Dummköpfe mit seinem goldenen Zepter zu treffen, »das gewöhnliche Volk hat weder Ihren Geist noch Ihre fromme Liebe. Man weiß nichts von unsern Schmerzen, niemand kennt unser Mühen. Der Bergmann hat nicht so viel Arbeit, das Gold aus der Mine zu gewinnen, als wir, wenn wir den Eingeweiden der undankbarsten aller Sprachen unsere Bilder entreißen wollen. Wenn es das Ziel der Poesie ist, die Ideen bis zu dem Punkt herauszuarbeiten, wo jedermann sie sehen und empfinden kann, dann muß der Dichter unaufhörlich die Leiter der menschlichen Begabungen auf und ab steigen, um ihnen allen Genüge zu tun; er muß die Logik und das Gefühl, zwei feindliche Gewalten, unter den lebhaftesten Farben verbergen; er muß eine ganze Welt von Gedanken in ein Wort einschließen, ganze Philosophien in ein Bild zusammenziehen; kurz, seine Verse sind Samenkörner, deren Blüten in den Herzen aufsprießen müssen, indem sie dort die Furchen aufsuchen, die die persönlichen Erlebnisse und Gefühle gegraben haben. Muß man nicht alles empfunden haben, um alles wiedergeben zu können? Und heißt nicht lebhaft empfinden so viel wie leiden? Darum entstehen die Dichtungen erst nach mühsamen Reisen in den weiten Gebieten des Gedankens und der Gesellschaft. Sind es nicht unsterbliche Mühen, denen wir Gestalten verdanken, deren Leben ein wirklicheres geworden ist als das von Menschen, die wahrhaft gelebt haben. Gestalten wie die Clarissa von Richardson, die Kamilla von Chénier, die Delia des Tibull, die Angelika des Ariost, die Francesca des Dante, die Alceste von Molière, der Figaro von Beaumarchais, die Rebekka von Walter
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