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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ohne Wissen ihrer Mutter, von der Poesie angezogen, ebenfalls in das Boudoir. Louise konnte, als sie sich auf das Kanapee setzte, zu dem sie Lucien geführt hatte, ohne gehört oder gesehen zu werden, ihm ins Ohr flüstern: »Süßer Freund, sie haben dich nicht begriffen! Aber ›dein Lied ist süß, es klingt mir noch im Ohr‹.«
    Lucien war von dieser Schmeichelei getröstet und vergaß für einen Augenblick seine Schmerzen.
    »Es gibt keinen billigen Ruhm«, so sprach Frau von Bargeton, die seine Hand ergriff und sie drückte, ihm zu. »Leiden Sie, leiden Sie, mein Freund, Sie werden groß werden, Ihre Schmerzen sind der Preis Ihrer Unsterblichkeit. Ich wollte, ich hätte die Mühen eines Kampfes zu überstehen. Gott behüte Sie vor einem schlaffen und kampflosen Leben, wo die Schwingen des Adlers nicht Raum genug finden! Ich beneide Sie um Ihre Leiden, denn Sie leben wenigstens! Sie werden Ihre Kräfte zur Geltung bringen. Sie erhoffen den Sieg: Ihr Kampf wird glorreich sein. Wenn Sie in dem herrlichen Reich angelangt sind, wo die großen Geister thronen, dann erinnern Sie sich der Armen, die vom Schicksal enterbt sind, deren Geist unter dem Druck moralischer Stickluft vernichtet wird und die zugrunde gehen mit dem beständigen Wissen um das Leben, ohne daß sie doch hätten leben können, die scharfe, durchdringende Augen gehabt und doch nichts gesehen haben, einen feinen Geruchssinn und doch keinen Duft empfunden haben als von verpesteten Blüten. Besingen Sie alsdann in Ihrer Dichtung die Pflanze, die inmitten eines Waldes vertrocknet, erstickt von Lianen, von wuchernden Schmarotzerpflanzen, ohne daß die Sonne sie gekost hätte, die stirbt, ohne geblüht zu haben! Wäre das nicht ein Gedicht von grausiger Melancholie, ein ganz und gar phantastischer Stoff? Was für ein himmlisches Bild, die Zeichnung eines jungen Mädchens, das unter dem Himmel Asiens geboren wurde, oder der Tochter der Wüste, die in irgendein kaltes Land des Okzidents verpflanzt wurde und nach ihrer geliebten Sonne ruft, die an Schmerzen stirbt, die niemand begreift, und in gleicher Weise von der Kälte und von der Liebe vernichtet wird! Das wäre der Typus so gar manchen Menschendaseins.«
    »Sie würden dann die Seele beschreiben, die sich des Himmels erinnert«, sagte der Bischof. »Übrigens muß dieses Gedicht früher einmal gemacht worden sein, ich habe mit Freude ein Fragment davon im Hohenliede gefunden.«
    »Das müssen Sie machen«, sagte Laura von Rastignac und brachte mit diesen Worten einen naiven Glauben an Luciens Genie zum Ausdruck.
    »Es fehlt Frankreich ein großes religiöses Gedicht«, sagte der Bischof. »Glauben Sie mir, auf den Mann von Talent, der für die Religion arbeitet, warten Ruhm und Reichtum.«
    »Er wird es machen, Monseigneur,« entgegnete Frau von Bargeton emphatisch. »Sehen Sie nicht, wie die Idee dieses Gedichts schon wie ein flammendes Morgenrot in seinen Augen aufblitzt?«
    »Naïs behandelt uns schlecht,« sagte Fifine; »was macht sie denn?«
    »Hören Sie nicht?« entgegnete Stanislaus; »sie reitet auf ihren großen Worten, die nicht Kopf noch Schwanz haben.«
    Amélie, Fifine, Adrian und Francis erschienen in der Tür des Boudoirs. Sie hatten sich Frau von Rastignac angeschlossen, die ihre Tochter suchte, da sie wegfahren wollte.
    »Naïs,« sagten die beiden Frauen, die sich freuten, daß sie die Abgeschiedenheit des Boudoirs störten, »es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie uns ein Stück spielten.«
    »Meine Liebe,« antwortete Frau von Bargeton, »Herr von Rubempré will uns seinen ›Johannes auf Patmos‹ rezitieren, ein prächtiges biblisches Gedicht.«
    »Biblisch?« wiederholte Fifine erstaunt.
    Amélie und Fifine kehrten in den Salon zurück und brachten dieses Wort dahin als neuen Stoff für den Spott. Lucien entschuldigte sich, er könne das Gedicht nicht rezitieren, da er es nicht auswendig wisse. Als er wieder erschien, erregte er nicht mehr das geringste Interesse. Alle plauderten oder spielten. Der Dichter war aller seiner Strahlen beraubt worden; die Grundbesitzer sahen in ihm nichts, was irgend nützlich sein könnte; die Prätentiösen fürchteten ihn als eine Macht, die gegen ihre Unwissenheit feindlich auftrat; die Frauen, die auf Frau von Bargeton, die Beatrice dieses neuen Dante, wie der Generalvikar sie genannt hatte, eifersüchtig waren, warfen ihm Blicke voll kalter Verachtung zu.
    »Das ist also die große Welt!« sagte Lucien zu sich selbst, als er über die Treppen

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