Verlorene Illusionen (German Edition)
die untröstlich über den Sturz des schönen Engels auf dem Olymp des Angoumois war, begab sich tränenden Auges in den bischöflichen Palast, um die Nachricht dorthin zu bringen. Als ohne Zweifel schon die ganze Stadt von dem Gerücht erfüllt war, begab sich der glückliche Châtelet zu Frau von Bargeton, wo heute abend leider nur ein einziger Whisttisch besetzt war. Er bat Naïs in diplomatisch leisem Ton, mit ihr in ihrem Boudoir plaudern zu dürfen. Sie setzten sich beide auf das kleine Kanapee.
»Sie wissen ohne Zweifel,« sagte Châtelet mit gedämpfter Stimme, »womit ganz Angoulême sich beschäftigt?...«
»Nein«, antwortete sie.
»Ich bin«, begann er, »zu sehr Ihr Freund, um Sie darüber im unklaren zu lassen. Ich muß Sie instand setzen, die Verleumdungen zum Schweigen zu bringen, die ohne Frage von Amélie erfunden sind, die die Vermessenheit hat, sich für Ihre Rivalin zu halten. Ich wollte Sie heute morgen zusammen mit diesem Affen Stanislaus besuchen. Er ging einige Schritte voraus, und als er hier angelangt war« – dabei deutete er auf die Boudoirtür –, »behauptet er, habe er Sie mit Herrn von Rubempré in einer Situation gesehen, die ihm nicht erlaubte, einzutreten; er kam ganz verwirrt zu mir zurück und schleppte mich mit sich, ohne mir Zeit zu lassen, zur Besinnung zu kommen; und wir waren schon in Beaulieu, als er mir endlich den Grund zu seiner Flucht mitteilte. Hätte ich eine Ahnung gehabt, wäre ich nicht von hier gewichen, sondern hätte diese Sache zu Ihren Gunsten aufgeklärt; aber, nachdem wir erst fortgegangen waren, noch einmal zurückkehren, hätte nichts mehr bewiesen. Wie die Sache jetzt steht, ob Stanislaus falsch gesehen hat oder ob er recht hat: er muß unrecht haben. Liebe Naïs, lassen Sie nicht Ihr Leben, Ihre Ehre, Ihre Zukunft von einem Dummkopf gefährden; bringen Sie ihn sofort zum Schweigen. Sie wissen, in welcher Lage ich mich hier befinde. Ich bin hier auf alle Welt angewiesen, aber ich stehe völlig zu Ihrer Verfügung. Verfügen Sie über ein Leben, das Ihnen gehört. Wenn Sie auch meine Wünsche zurückgewiesen haben, gehört doch mein Herz immer Ihnen, und bei jeder Gelegenheit werde ich Ihnen beweisen, wie sehr ich Sie liebe. Jawohl, ich werde wie ein treuer Diener über Sie wachen, ohne Hoffnung auf Belohnung, lediglich um des Vergnügens willen, das ich daran finde, Ihnen, selbst wenn Sie es nicht wissen, zu dienen. Ich habe diesen Morgen überall gesagt, daß ich an der Salontür war und nichts gesehen habe. Wenn man Sie fragt, wer Sie von den Reden, die über Sie geführt werden, unterrichtet hat, dann nennen Sie mich. Ich wäre sehr glücklich, Ihr erkorener Verteidiger zu sein, aber unter uns gesagt, ist Herr von Bargeton der einzige, der von Stanislaus Rechenschaft verlangen kann. – Vielleicht hat dieser kleine Rubempré eine Torheit begangen, aber die Ehre einer Frau sollte nicht einem beliebigen Tollkopf ausgeliefert sein, der sich ihr zu Füßen wirft. Das hatte ich zu sagen.«
Naïs dankte Châtelet mit einer Neigung des Kopfes und blieb in Nachdenken versunken. Sie war bis zum Ekel des Provinzlebens überdrüssig. Beim ersten Wort Châtelets hatte sie an Paris gedacht. Das Schweigen der Frau von Bargeton setzte ihren klugen Anbeter in Verlegenheit.
»Verfügen Sie über mich,« sagte er, »ich wiederhole es Ihnen.«
»Danke«, antwortete sie. »Was denken Sie zu tun?«
»Ich werde sehen.« Langes Schweigen. »Lieben Sie denn diesen kleinen Rubempré so sehr?«
Sie lächelte hochmütig, kreuzte die Arme und betrachtete die Vorhänge ihres Boudoirs. Châtelet ging, ohne dieses stolze Frauenherz enträtseln zu können. Als Lucien und die vier getreuen alten Herren, die zu ihrer Kartenpartie eingetroffen waren, ohne sich über diese zweifelhaften Lästerreden aufzuregen, sich wegbegeben hatten, wandte sich Frau von Bargeton an ihren Mann. Er war gerade im Begriff gewesen, schlafen zu gehen, und hatte schon den Mund geöffnet, um seiner Frau gute Nacht zu wünschen.
»Komm mit mir, mein Lieber, ich habe mit dir zu sprechen«, sagte sie mit einer gewissen Feierlichkeit. Herr von Bargeton folgte seiner Frau in das Boudoir. »Mein Lieber,« sagte sie zu ihm, »Ich habe vielleicht unrecht gehabt, in meine Sorge und Protektion für Herrn von Rubempré eine Wärme zu legen, die die dummen Menschen ebenso schlecht verstanden, wie er selbst. Heute morgen hat sich Lucien mir zu Füßen geworfen und fing an, mir eine Liebeserklärung zu machen.
Weitere Kostenlose Bücher