Verlorene Illusionen (German Edition)
wahrhafte Liebe besitzen, die all mein Denken beseelt, werden Sie nie meiner würdig sein.«
»Sie setzen Zweifel in meine Liebe, um der Antwort enthoben zu sein«, sagte Lucien und warf sich ihr schluchzend zu Füßen.
Der arme Bursche weinte allen Ernstes, da er sich auf so lange Zeit aus dem Paradiese ausgeschlossen sah. Es waren Tränen eines Dichters, der sich in seiner Macht gedemütigt glaubte, Tränen eines Kindes, das außer sich gerät, weil man ihm ein Spielzeug, das es begehrt, verweigert.
»Sie haben mich nie geliebt!« rief er.
»Sie glauben nicht, was Sie sagen«, antwortete sie. Sie war glücklich über dieses Ungestüm.
»So beweisen Sie mir doch, daß Sie mir gehören«, rief Lucien, dem die Haare wild ums Gesicht hingen.
In diesem Augenblick war Stanislaus geräuschlos hinzugetreten, sah Lucien halb zu Boden liegend, mit Tränen in den Augen und den Kopf auf Louisens Knie. Von diesem hinreichend verdächtigen Anblick zufriedengestellt, wandte er sich heftig gegen Châtelet um, der an der Tür des Salons stehen geblieben war. Frau von Bargeton stürzte eilends hinaus, aber sie erreichte die beiden Spione nicht mehr, die sich, wie jemand, der nicht gelegen kommt, schleunigst zurückgezogen hatten.
»Wer war denn hier?« fragte sie ihre Leute.
»Die Herren von Chandour und du Châtelet«, antwortete Gentil, ihr alter Kammerdiener.
Bleich und zitternd kehrte sie in ihr Boudoir zurück.
»Wenn sie Sie so gesehen haben, bin ich verloren«, sagte sie zu Lucien.
»Um so besser!« rief der Dichter.
Sie lächelte bei diesem Ausruf des Egoismus, in dem so viel Liebe lag. In der Provinz wird ein solches Abenteuer schlimmer durch die Art, wie es erzählt wird. In einem Augenblick erfuhr alle Welt, Lucien wäre ertappt worden, wie er vor Naïs auf den Knien lag. Herr von Chandour war glücklich über die Wichtigkeit, die ihm diese Sache gab, und beeilte sich zunächst, das große Ereignis im Klub und dann von Haus zu Haus zu erzählen. Châtelet legte Wert darauf, überall zu sagen, er hätte nichts gesehen; aber gerade dadurch, daß er sich so abseits stellte, reizte er Stanislaus zum Sprechen, brachte er ihn dazu, die Einzelheiten zu übertreiben; und Stanislaus, der von sich selber den Eindruck bekam, er sei ein witziger Kopf, fügte bei jedem Wiedererzählen neue Einzelheiten hinzu. Am Abend strömte die ganze Gesellschaft zu Amélie, denn die übertriebensten Versionen zirkulierten schon am Abend in den Adelskreisen Angoulêmes, wo jeder Erzähler dem Beispiel Stanislaus' gefolgt war. Frauen und Männer waren ungeduldig, die Wahrheit zu erfahren. Die von den Frauen, die am meisten die Hände zusammenschlugen und von Skandal und Unzucht schrien, waren gerade Amélie, Zéphirine, Fifine, Lolotte, die alle mehr oder weniger unerlaubter Freuden schuldig waren. Das grausame Thema wurde in allen Tonarten variiert.
»Ja,« sagte eine, »die arme Naïs! nicht wahr? Ich glaube es nicht, ein ganzes Leben ohne Tadel spricht für sie; sie ist viel zu stolz, um etwas anderes zu sein als die Gönnerin dieses Herrn Chardon. Aber wenn es so ist, beklage ich sie von ganzem Herzen.«
»Sie ist um so mehr zu beklagen, als sie sich schrecklich lächerlich macht; denn sie könnte die Mutter dieses Herrn Lulu sein, wie ihn Jacques genannt hat. Dieses Dichterlein ist höchstens zweiundzwanzig Jahre alt, und Naïs hat, unter uns gesagt, gute vierzig hinter sich.«
»Ich für mein Teil«, sagte Châtelet, »finde, daß gerade die Situation, in der Herr von Rubempré getroffen wurde, Naïs' Unschuld beweist. Man fällt nicht auf die Knie, um zu begehren, was man schon gehabt hat«
»Je nachdem!« sagte Francis mit einem vergnügten Schmunzeln, das ihm von Zéphirine einen mißbilligenden Blick eintrug. »Aber sagen Sie uns doch, wie die Sache sich verhält?« fragte man Stanislaus und bildete eine Art Geheimkomitee in einer Ecke des Salons.
Stanislaus hatte schließlich eine kleine Geschichte, die voller verblümter Unanständigkeiten war, zusammengestellt und begleitete sie mit Gesten und Stellungen, die die Sache noch sehr verschlimmerten.
»Das ist unglaublich«, sagte man immer wieder. »Am Mittag?« fragte eine. »Naïs wäre die letzte gewesen, die ich im Verdacht gehabt hätte.«
»Was wird sie beginnen?«
Dann unendliche Kommentare und Vermutungen!... Du Châtelet verteidigte Frau von Bargeton; aber er verteidigte sie so ungeschickt, daß er das Feuer des Klatsches schürte, anstatt es zu löschen. Lili,
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