Verlorene Illusionen (German Edition)
indem sie den dringenden Wunsch aussprach, die Wahrheit zu erfahren. Jeder führte seine Gründe an. Wie es in kleinen Städten geschieht, traten oft einige intime Freunde des Hauses Chandour gerade während eines Gesprächs ein, in dem Châtelet und Stanislaus um die Wette ihre Meinung mit ausgezeichneten Argumenten vertraten. Es ergab sich wie von selbst, daß jeder von den beiden Gegnern Bundesgenossen suchte und etwa seinen Nachbarn fragte: »Und Sie, was ist Ihre Meinung?« Diese Kontroverse bewirkte es, daß man Frau von Bargeton und Lucien nicht aus den Augen ließ.
Eines Tages endlich bemerkte Châtelet, daß, wenn Herr von Chandour und er Frau von Bargeton besuchten und Lucien da war, niemals irgendein Anzeichen für verdächtige Beziehungen vorhanden sei: die Tür zum Boudoir war immer offen, die Leute kamen und gingen, nichts Geheimnisvolles kündete die reizenden Verbrechen der Liebe usw. Stanislaus, dem es an einem gewissen Quantum Dummheit nicht fehlte, versprach, er wolle am nächsten Tag auf den Fußspitzen sich heranschleichen, und Amélie bestärkte ihn in diesem Vorsatz lebhaft.
Dieser nächste Tag war für Lucien einer von denen, wo junge Menschen sich die Haare ausraufen und sich geloben, der törichten Zeit des Schmachtens endlich ein Ende zu machen. Er hatte sich an seine Lage gewöhnt. Der Dichter, der in dem geheiligten Boudoir der Königin von Angoulême kaum gewagt hatte, sich auf einen Stuhl zu setzen, hatte sich in einen drängenden Liebhaber verwandelt. Sechs Monate hatten genügt, daß er sich Louise ebenbürtig fühlte, und er wollte jetzt ihr Herr sein. Als er von zu Hause wegging, versprach er sich, sehr unvernünftig zu sein, alles daranzusetzen, alle Mittel einer stammenden Beredsamkeit anzuwenden; er wollte sagen, er hätte keinen Kopf mehr, er wäre unfähig, einen Gedanken zu fassen oder eine Zeile zu schreiben. Manche Frauen haben eine schreckliche Angst vor festen Entschlüssen, die ihrem Zartgefühl Ehre macht, sie wollen der Verführung weichen, aber nicht der Konvention. Niemand will einen Genuß, zu dem er gezwungen wird. Frau von Bargeton bemerkte auf Luciens Stirn, in seinen Augen, seiner ganzen Physiognomie und seinem Auftreten das aufgeregte Wesen, das eine feste Entschließung verrät: sie nahm sich vor, sie zu vereiteln, ein wenig aus Widerspruchsgeist, aber auch aus einer edlen Auffassung der Liebe. Als überspannte Frau war sie gewöhnt, ihre Meinung von dem Wert ihrer Person zu überschätzen. In ihren Augen war sie eine Fürstin, eine Beatrice, eine Laura. Sie setzte sich, wie mans im Mittelalter tat, unter den Baldachin des Dichterturniers, und Lucien durfte sie erst nach etlichen Siegen verdienen; er mußte erst das »himmlische Kind«, Lamartine, Walter Scott, Byron überwinden. Die edle Frau betrachtete ihre Liebe wie ein erhabenes Prinzip: die Wünsche, zu denen sie Lucien brachte, mußten ihn antreiben, sich Ruhm zu erwerben. Diese weibliche Donquichotterie ist ein Gefühl, das der Liebe eine ansehnliche Weihe gibt, sie macht sie nutzbringend, groß und ehrenvoll. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, im Leben Luciens sieben oder acht Jahre die Rolle der Dulzinea zu spielen, und wollte, wie viele Frauen der Provinz, ihre Person durch eine Art Leibeigenschaft, durch eine Zeit der Treue erkaufen lassen, die es ihr möglich machte, ihren Freund von Grund aus kennen zu lernen.
Als Lucien den Kampf mit einer der prahlerischen Übertreibungen begonnen hatte, über die die Frauen, die noch frei über sich selbst verfügen, lachen, und die nur die Frauen, die sich hingegeben haben, betrüben, nahm Louise eine würdige Miene an und begann eine ihrer langen, mit pomphaften Worten gespickten Reden.
»Halten Sie so Ihr Versprechen, Lucien?« sagte sie schließlich. »Sie dürfen in eine so süße Gegenwart nicht Gewissensbisse hineinbringen, die später mein Leben vergiften würden. Verderben Sie nicht die Zukunft! und, ich sage es mit Stolz, verderben Sie nicht die Gegenwart! Haben Sie nicht mein ganzes Herz, was fehlt Ihnen denn noch? Läßt sich wirklich Ihre Liebe von den Sinnen beeinflussen, während es das schönste Vorrecht einer geliebten Frau ist, ihnen Ruhe zu gebieten? Wofür halten Sie mich denn? Bin ich nicht mehr Ihre Beatrice? Wenn ich für Sie nicht etwas mehr als ein Weib bin, bin ich weniger als ein Weib.«
»Sie würden zu einem Manne, den Sie nicht lieben, nichts anderes sagen«, rief Lucien wütend. »Wenn Sie keine Empfindung für die
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